Rezension zu "Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?" von Heiner Geißler
Dieses Taschenbuch "Kannn man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss" von Heiner Geissler hat mal gerade 75 Seiten. Doch diese wenigen Seiten haben es in sich.
Heiner Geissler, der einst kath. Theologie studierte und Priester werden wollte bis er einsah, dass dieses Leben für ihn nicht passte. Das ehemalige `enfant terrible´ der CDU stellt in dieser Schrift viele Fragen, ohne jedoch umfassende Antworten zu geben. Es ist eine Herausforderung für den Leser, sich auf diese Fragen einzulassen und nicht nur mit dem üblichen Stammtischgeschwätz zu beantworten. Jeder, der sich auf dieses Büchlein einlässt, wird seine eigenen Antworten finden müssen. Da hilft nur, sich auch in anderen literarischen oder theologischen Quellen zu informieren und gründlich nachzudenken.
Der Autor hat diese Lektüre in viele kurze Kapitel unterteilt, so dass man als Leser auch immer mal wieder bequem zurückblättern und das was einem unter den Nägeln brennt, zweimal lesen kann. Ich habe mir zig Notizen und Textstellen herausgeschrieben, die alle hier aufzuführen aber den Rahmen sprengen würde.
Am weitesten verbreitet werden die Fragen des ganz kurzen Kapitels "Eine Menschheitsfrage" (S.11) sein. "Warum hat Gott das Übel nicht verhindert? Entweder Gott kann es nicht, dann ist er nicht allmächtig. Oder er will nicht, dann ist er nicht gut und gerecht. Oder er kann und will nicht, dann ist er ohnmächtig und böse zugleich. Oder er kann und will, warum tut er es dann nicht?"
In dem Kapitel "Leid als globales Massenphänomen": Die Ausführungen "Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes ist global präsent und berührt die grundätzliche Akzeptanz vor allem der christlichen Religion. Denn durch die Aufklärung vor gut dreihundert Jahren sind die Menschen in Europa und Amerika aus ihrer unverschuldeten Unmündigkei befreit und ermutigt worden, ohne Hilfe anderer selbständig zu denken. Hindus und Muslime haben die Aufklärung weitgehend noch vor sich..." Wie lässt sich unter diesem Gesichtspunkt unser Glaube erklären? Könnte es nicht sein, dass der Mensch mit seinen vielen Möglichkeiten überfordert ist und im Glauben eine Zuflucht, ein Fels findet?
Was gerade jetzt im Fokus steht (auf S. 18): " ....Sie liefert Diakonie und Caritas den modernen Götzen der Betriebswirtschaftslehre aus und verrät so die jesuanische Botschaft der Nächstenliebe." Insbesondere in der derzeitigen Pandemie ist dies ein großer Diskussionspunkt. Trotz aller Probleme werden Krankenhäuser geschlossen - rein aus betriebswirtschaftlichen Gründen. Man könnte fast glauben, Heiner Geissler habe hellseherische Eingebungen gehabt und die derzeitige Sitution vorhergesehen.
In dem Kapitel "Tod als Provokation" beleuchtet der Autor das Sterben. Wir alle wissen, dass der Tod zum Leben dazu gehört, doch wir verschließen die Augen davor, als könnten wir so entkommen. Es wird Tucholsky zitiert: "Ich habe keine Angst zu sterben. Ich möchte nur nicht dabei sein, wenn es passiert." (S. 41)
Ja, das ganze Taschenbuch ist auf gewisse Weise eine einzige Provokation für den Leser. Vielleicht, damit man sich nicht mehr herausreden kann wenn man sich weigert über Gott, die Welt und das Leben nachzudenken. Die Regale der Buchläden und öffentlichen Bibliotheken sind heute voller banaler Romane, die man ohne geistige Anstrengung nur zu konsumieren braucht. Als sei es das Ziel, die Leser ruhig zu stellen und vom Nachdenken über Wesentliches abzuhalten. Keine unangenehmen Fragen aufwerfen. Schöne heile Welt auf dem Teller, den man vor die Nase gestellt bekommt!
Ganz im Gegensatz dazu diese dünne Broschüre. Heiner Geissler gibt sich unbequem, stellt Fragen über Fragen - die wir wohl nie zufriedenstellend beantworten können, egal wieviel Zeit vergeht und wie sehr wir uns den Kopf darüber zerbrechen. Wahrscheinlich ist dies genau das, was der Autor mit diesem Buch bezweckte: Den Leser unruhig machen, aus seiner Lethargie aufscheuchen um seinen Hintern aus dem bequemen Sessel zu erheben, sich auf die Suche zu begeben und Antworten auf die entscheidendsten Fragen des Lebens zu finden.
"Die Theologie hat die Naturwissenschaften über Jahrhunderte behindert, bevormundet, verfolgt." (S. 48) Religion hat auch ihre dunklen Seiten.
"Der Glaube an diesen Gott gibt uns keine Antwort, welchen Sinn das Leiden auf der Erde hat. Wir müssen also mit der Sinnlosigkeit des Leidens leben. Wir haben als Christen keine besser Sinndeutung des Leidens in der Welt als jeder andere auch. Deswegen wird das Leiden für viele immer mehr zum Fels des Atheismus".
Aber muss dies die letzte und einzige Antwort sein? (S. 69)