Inhalt:
Professor Raat – von seinen Schülern gemeiner Weise „Professor Unrat“ genannt – arbeitet seit fast 30 Jahren als Lehrer am örtlichen Gymnasium. Er hat die Freude an seinem Beruf verloren, begegnet seinen Schülern mit unerbittlicher Strenge und wird von ihnen regelrecht gefürchtet: Wer ihm in die Quere kommt und sein Missfallen erregt muss damit rechnen, dass Raat alles daran setzt im seine schulische und damit auch seine berufliche Laufbahn zu ruinieren. Als Raat eines Tages erfährt, dass einige Schüler ihre Abende in einem zwielichtigen und verrufenen Lokal namens „Der blaue Engel“ verbringen, geht er der Sache auf den Grund und lernt dort die Sängerin und Tänzerin Rosa Fröhlich kennen. Es eröffnet sich ihm eine völlig neue Welt abseits der strengen bürgerlichen Ordnung…
Ein Jahr war gut oder schlecht, je nachdem Unrat einige „fasste“ oder ihnen „nichts beweisen“ konnte. Unrat, der sich von den Schülern hinterrücks angefeindet, betrogen und gehasst wusste, behandelte sie seinerseits als Erbfeinde, von denen man nicht genug „hineinlegen“ und vom „Ziel der Klasse“ zurückhalten konnte. (S. 16)
Meine Meinung:
Als Freund von Filmklassikern kannte ich vor dem Lesen dieses Buches bereits die tolle Verfilmung Der blaue Engel mit Marlene Dietrich und Emil Jannings war gespannt darauf die Buchvorlage kennenzulernen.
Raat ist kein Protagonist wie jeder andere, aber gerade das sorgt auch für Abwechslung und macht die Geschichte interessant. Raats Macken und Schwächen werden wirklich schonungslos geschildert, weshalb es einem manchmal schwerfällt Sympathien für ihn aufzubringen. Raat fühlt sich z. B. relativ schnell provoziert und es bereitet ihm dann viel zu große Freude den betreffenden Schüler „hereinzulegen“ indem er ihn gezielt Dinge abfragt, die dieser garantiert „nicht präpariert“ hat, damit er schlechte Noten vergeben und die Versetzung in die nächste Klasse verhindern kann. Raats Engstirnigkeit, seine Verbitterung, seine unerbittliche Strenge, sein Hass und sein Rachebedürfnis sind stellenweise ziemlich abschreckend und man hat zuweilen ein ungutes Gefühl bei der Vorstellung was er als nächstes vorhat. Es gibt aber auch einige Situationen in denen man mit Raat mitfühlen kann, Mitleid mit ihm hat und ihm wünscht, dass er den Weg in ein glücklicheres Leben findet. So ist es traurig, dass der vereinsamt Raat zu Beginn des Buches seit Jahren in einem trostlosen und unerfüllten Leben gefangen ist und kein Entkommen in Sicht ist. Er hat die Fähigkeit verloren das Gute in seinen Mitmenschen zu sehen und er unterstellt ihnen stattdessen grundsätzlich schlechte und niederträchtige Absichten. Dadurch entgehen ihm positive Erfahrungen mit diesem Menschen.
Das Kennenlernen zwischen Raat und der Künstlerin Rosa hat mir richtig gut gefallen. Als sich Raat und Rose begegnen prallen Welten aufeinander. Es ist sehr unterhaltsam zu verfolgen wie sich der sonst so selbstsichere, strenge und dominant auftretende Raat von der lebenslustigen Rosa verunsichern und aus dem Konzept bringen lässt. Raat ist zunächst ziemlich mit Rosas direkter Art überfordert, weil es sonst nicht mit Personen zu tun hat, die immer frei heraus sagen was sie denken und ihr Meinung nicht erstmal für sich behalten. Außerdem ist es niedlich wie er sich aufgrund der Aufmerksamkeit der jungen Frau geschmeichelt fühlt und wie sehr er sich bemüht ihre Gunst zu gewinnen (ich sagen nur Stichwort „Schminke“!).
Raat und Rosa sind ein Paar der besonderen Art – im Guten wie im Schlechten. Sie lassen sich auf den jeweils anderen ein obwohl sie zunächst wenige Gemeinsamkeiten haben, unterstützen sich gegenseitig und trotzen gemeinsam den Vorurteilen ihrer Gesellschaft. Es ist aber keine richtige und gegenseitige Liebe, die die beiden verbindet. Rosa hat es hauptsächlich auf Raats Geld abgesehen und obwohl sie sich zunächst sehr bemüht kann sie ihm gegenüber zwar freundschaftliche Gefühle, aber keine echte Liebe empfinden. Raat wiederum scheint Rosa zwar durchaus zu lieben, das gerät aber recht schnell in den Hintergrund, weil er sie benutzt um sich mit ihrer Hilfe an seinen „Feinden“ zu rächen. Es scheint Raat vor allem darum zu gehen Rosa für sich allein zu haben, sie anderen Leuten zu entziehen und sie für seine Zwecke zu benutzen. Man kommt nicht umhin sich zu fragen ob die beiden zusammen wirklich besser dran sind als alleine.
Da das Buch bereits 1905 veröffentlich wurde wirkt der Schreibstil wie zu erwarten ist etwas altmodisch, ist aber dennoch insgesamt gut lesbar. Ich hatte allerdings Verständnisprobleme bei dem Dialekt gehabt, den die Arbeiter in der Harfengegend sprechen. Das betrifft aber zum Glück nur ein paar wenige Wortwechsel und es war nicht weiter schlimm, denn ich konnte mich dadurch besser mit Raat identifizieren, denn auch der hatte Probleme den Dialekt dieser Leute zu verstehen.
Es war für mich eine große Überraschung, dass ich bei der Geschichte an so einigen Stellen gedacht habe, dass ich das von einem Buch aus dem Jahre 1905 so nicht erwartet hätte. Das Buch ist bei seinem Erscheinen wahrscheinlich schon ein kleiner Skandal gewesen und vor allem das Ende (das sich deutlich von dem der Verfilmung unterscheidet) dürfte in der damaligen Zeit recht gewagt gewesen sein. Die Art und Weise wie Raat gegen die bürgerliche Ordnung und die gesellschaftlichen Erwartungen aufbegehrt ist drastischer als erwartet und es ist interessant und unterhaltsam dies zu verfolgen.
Einen Stern Abzug gibt es, weil mir das Erzähltempo im Mittelteil des Buches stellenweise ein wenig zu langsam war. Vor allem Raats ewiger Ärger mit Lohmann, von Ertzum und Kieselack sowie die Episode mit dem Hünengrab hätten meiner Meinung nach getrost etwas weniger Seiten einnehmen können.
Vergleich mit der Verfilmung „Der blaue Engel“:
Marlene Dietrich und Emil Jannings verkörpern die beiden Hauptpersonen der Geschichte unglaublich gut und sie hauchen ihnen gekonnt Leben ein. Die Darstellung deckt sich auch weitgehend mit dem Bild, das man beim Lesen des Buches von den beiden hat. Allerdings ist einem der Raat aus der Verfilmung sympathischer, weil er nicht so extrem verbittert, hasserfüllt und rachsüchtig herüberkommt wie im Buch. Außerdem ist der Film emotionaler und es sind mehr Gefühle zwischen Raat und Rosa/Lola zu spüren.
Der Film hält sich zu Anfang noch sehr nah an die Buchvorlage, aber zum Ende hin gibt es dann deutliche Abweichungen: Im Film bereut Raat die Abkehr von seinem alten Leben zutiefst und zerbricht daran. Im Buch verfolgt Raat hingegen seinen neuen Lebensweg ohne Skrupel und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Das bleibt für die Stadt und einige ihrer Bewohner nicht ohne Folgen. Raat rebelliert gegen die bürgerliche Gesellschaft und versucht möglichst viele seiner Mitbürger mit in den Abgrund zu reißen, der sich auftut.
Sowohl das Ende des Buches als auch, dass es Films wirken auf ihre jeweilige Weise stimmig und passend. Ich kann mich nicht entscheiden, welches Ende mir besser gefällt. Beide Enden haben etwas für sich und man hat dadurch den Vorteil die Geschichte auf zwei verschiedene Arten erleben zu können.
Fazit:
Ich bin sehr positiv von diesem Literaturklassiker überrascht. Diese Geschichte ist mal etwas ganz Anderes und sie lässt das Leben im Deutschland der Kaiserzeit in interessanter, unterhaltsamer und kurzweiliger Weise lebendig werden. Die strengen gesellschaftlichen Erwartungen und Moralvorstellungen der damaligen Zeit und deren Schattenseiten werden einem eindrücklich vor Augen geführt.
Auch wenn man die Verfilmung bereits kennt vermag es dieses Buch einem noch zu überraschen, weil es vor allem zum Ende hin interessante Abweichungen gibt.
Zum Schluss noch ein schönes Zitat, das Raat von seiner guten Seite zeigt:
Er wendete sich, und seine Hand tastete durch die Luft, mit Anstrengung zurück nach der Künstlerin Fröhlich, die schon schlief, und versprach ihr: „Ich werde versuchen, Sie durchzubringen.“ Dies konnte ein Lehrer vor der Versetzung zu einem Schüler sagen, dem er wohlwollte, oder er konnte es über ihn denken. Aber Unrat hatte es noch zu keinem gesagt und von keinem gedacht. (S. 106/107)
























