Heinrich W von Gerstenberg

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Rezension zu "Ugolino" von Heinrich W von Gerstenberg

In der "Göttlichen Komödie" (verfasst 1311-1321) des italienischen Dichters Dante Alighieri (1265-1321) begegnet man im 33. Gesang, der Höllenfahrt, Ugolino. Dort heißt es: "Dieser Sünder erhob den Mund von dem grausamen Fraße, indem er ihn an den Haaren des Kopfes trocknete, den er zernagt hatte." - Diese Übersetzung von Johann Nikolaus Meinhard, aus dem Jahre 1763, gab Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (1737-1823) die Grundidee zu dem Drama "Ugolino", das 1768 veröffentlicht wurde.
Den Kopf, den Ugolino in Dantes Höllenfahrt zernagt, ist der Kopf des Erzbischof Ruggiero. Warum er dies tut, erzählt er Dante. Und Gerstenberg greift das Motiv auf, um es dramatisch zu verarbeiten.
Ugolino ist in einem Turm gefangen. Mit ihm seine drei Söhne: der sechsjährige Gaddo, der dreizehnjährige Anselmo und der 20-jährige Francesco. Der Erzbischof ließ sie in das Verlies sperren, weil Ugolino seinen Machtinteressen in die Quere kam. Ugolino wollte sich zum Fürst von Pisa erheben, was aber Ruggiero offenbar gar nicht zusagte. - Die Tragödie beginnt, als bereits seit zwei Tagen das Essen ausbleibt, der Hunger bereits von allen vier Besitz ergriffen hat. Der kleine Gaddo ist schon völlig entkräftet und auch bei den anderen sinkt die Hoffnung. Francesco entdeckt aber einen Spalt im Mauerwerk, vergrößert ihn und will entfliehen, um dann seinen Vater und die Brüder zu befreien. Obwohl Ugolino nichts davon hält, startet Francesco sein riskantes Vorhaben. Tatsächlich gelingt ihm auch der Ausbruch. Aber: er wird von den Leuten des Erzbischofs gefangen und bekommt einen langsam wirkenden Gifttrank. Zusätzlich lässt Ruggiero Ugolinos Frau töten. Beide, die tote Frau und Francesco, werden in Särge gelegt und in den Turm gebracht. Anschließend wird der Turm für immer verriegelt. Die Eingesperrten sollen den Hungertod sterben, der Turm das Gebeinhaus der Verhungerten auf ewig sein. - Dies ist die Botschaft, die Francesco mitbringt.
Gab es bislang noch Hoffnung für die Eingeschlossenen auf ein Erbarmen, so sind sie sich jetzt ihres Endes bewusst: Sie werden gnadenlos verhungern!
Ugolinos Streben nach Macht endet im Tod für alle seine Lieben. Seine Frau, Francesco, Anselmo und Gaddo - alle müssen sterben, weil er dem Bischof ins Gehege kam. Und er, er soll es mit ansehen und miterleben, wie alle zugrunde gehen.
Es ist, anders als wenn die Möglichkeit eines positiven Endes irgendwie im Bereich des Machbaren erscheint, hier kein Kampf ums Überleben, sondern ein Kampf ums Sterben. Es geht nicht mehr darum etwas der Welt zu hinterlassen, denn für die Welt existiert man bereits nicht mehr.
Der Leser erlebt, was in den vier Charakteren während des langsam fortschreitenden Sterbeprozesses vorgeht. Leidenschaftliche Liebe zueinander bestimmt das Miteinander der Eingekerkerten, leidenschaftlicher Hass ihre Gedanken an den Erzbischof. Aber nicht immer geradlinig ist diese Tendenz, sondern auch, aufgrund der besonderen Situation, Extremschwankungen unterworfen. Werden doch auch mit zunehmenden Hunger die Gedanken mitunter verwirrter, treten Halluzinationen und Phantasmen auf. Der Mensch wird unkontrollierbar.
Über das ganze Stück hinweg steigert sich die dramatische Situation der vier crescendoartig, bis hin dazu, dass Anselmo über seine tote Mutter herfällt und sie annagen will und Ugolino von seinem eigenen Fleisch zerrt. Ugolinos einziges Ziel am Ende: er will der letzte sein, der dahinstirbt.
Eine grausige Szenerie, ein brutales Thema - zweifellos. Von Anfang an ist im Grunde klar, wie dieses Stück enden wird. Die beeindruckende Dramatik kommt dadurch zustande, dass der Leser das Wie des Sterbens der Verhungernden miterlebt, was in ihnen vorgeht und wie sich der Mensch in einer solchen Situation verändert.
Sicher: keine leichte Unterhaltungskost, die da dem Publikum geboten wird. Selbst Shakespeare ließ am Ende dem Rezipienten immer einen Hoffnungsschimmer, hinterließ etwas Positives, dass man aus dem Stück mitnahm. - Aber hier, hier steht am Ende nur Tod und Verwesung.
Der Held ist von Beginn an ein gescheiterter, dem Tod geweiht. Der strebende Geniegeist, der mehr wollte, als die vorgesehene Ordnung ihm gebot, gefangen, eingemauert in der Welt. Nur der Tod noch als Erstrebenswertes, als Erlösung, als Ziel der Freiheit. Die Freiheit liegt im Tod, im Sterben. In der Welt ist das Genie gefangen. - Das bleibt letztlich von diesem sehr leidenschaftlich geprägtem Frühwerk bzw Vorausläufer, je nachdem man es betrachten will, des Sturm und Drang.
Im Grunde hat Gerstenberg aber damit auch bereits das Scheitern des gerade entstehenden Sturm und Drangs vorweggenommen: Das Ansinnen auf Selbstverwirklichung des schöpferisch denkenden Menschen, auch des Geniegeistes der Autoren, der mehr will als nur wie ein Automat seinen Platz einnehmen, vorgegeben durch Rollen, die man einzunehemen hat, hat keine Chance auf Erfolg in dieser Welt. Die Ruggieros werden dies zu verhindern wissen. Zu starr ist das System, als dass diese Querdenker es verändern könnten.
Gerstenbergs Drama ist ein auch heute noch lesenswertes Stück. Ist es doch auch heute noch oft so wie zu Gerstenbergs Zeiten oder der Ugolinos: Rollendenken bestimmt unser Leben in großen Maße und Menschen, die sich selbstverwirklichen wollen, werden kritisch beäugt.

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