Cover des Buches Drei Söhne (ISBN: 9783827012692)
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Rezension zu Drei Söhne von Helen Garner

Großartig!

von Buecherschmaus vor 7 Jahren

Rezension

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Buecherschmausvor 7 Jahren
Eine ganz unglaubliche Geschichte: Am Abend des 4. September 2005, dem australischen Vatertag, kommt Robert Farquharson mit seinem Auto von der Straße ab und fährt in einen Baggersee, einen der vielen australischen „dams“, Wasserreservoire für die Farmer. Das Auto sinkt schnell und seine drei kleinen Söhne, die er bei seiner von ihm getrennt lebenden Frau abliefern sollte, ertrinken. Der Vater kann sich retten und gibt an, nach einem Hustenanfall am Steuer ohnmächtig geworden zu sein. Solche Hustensynkopen sind zwar selten, aber durchaus möglich. Aber Farquharson benimmt sich am Unfallort äußerst merkwürdig. Statt den Kindern Hilfe zu leisten, bringt er sich in Sicherheit, hält ein Auto an und drängt die Insassen, ihn zu seiner Frau zu fahren. Erst danach werden Polizei und Rettungsdienste verständigt. Auch danach zeigt Farquharson eine verstörende Teilnahmslosigkeit.
Der Fall Farquharson hat die australische Öffentlichkeit beträchtlich aufgewühlt. Sowohl der Unfall selbst (oder war es Mord, versuchter erweiterter Selbstmord?) als auch der 2007 begonnene Prozess gegen den Vater, der sich mit Berufungsverfahren und nachgereichten Eingaben bis 2013 hinzog, beschäftigte Menschen und Medien.
Die Schriftstellerin Helen Garner, die hierzulande 2009 mit ihrem Buch „Das Zimmer“ einige Bekanntheit erlangte und die in ihrem Heimatland Australien immer wieder auch für ihre literarischen Reportagen ausgezeichnet wurde, hat diesen Prozess über seine ganze Länge hin vor Ort verfolgt. Herausgekommen ist dabei diese True-Crime-Story, die dem Leser den Atem raubt.
Von außen eine Gerichtsreportage - wer schon immer eine Abneigung gegen Gerichtsdramen hatte, wird vielleicht auch mit diesem Buch nicht glücklich werden – schildert Garner jedoch so viel mehr als die Aussagen und das Auftreten der Anwälte und Richter, der Zeugen und des Angeklagten.
Sie nimmt den Leser mit auf eine beklemmende Gefühlsachterbahn, die mit dem Stoßgebet „Lass es ein Unfall gewesen sein“ beginnt, als Garner die ersten Meldungen über das Geschehen vernimmt - zu schrecklich wäre es, hätte der Vater seine Söhne tatsächlich vorsätzlich getötet - und die immer mehr nach unten führt, je mehr sich der Verdacht gegen den Vater erhärtet, Zeugenaussagen über geäußerte Rachepläne gegen seine Frau auftauchen, die ihn verlassen hat und mittlerweile mit den Söhnen bei einem neuen Mann lebt. Zwischenzeitlich kommen aber immer wieder auch Zweifel auf, ja so etwas wie Mitleid und gar zaghafte Sympathie für den Angeklagten, je mehr er in die Ecke getrieben wird. Andererseits beteuern auch immer wieder Exfrau, Großeltern und andere Zeugen seine vermeintliche Unschuld. Die Tat ist gut dokumentiert, man kann im Internet nahezu jede Phase von der Bergung des Wagens bis zur Verurteilung verfolgen, sieht die drei Jungs lachend auf dem Sofa sitzen, sieht ihren überladenen Grabstein. Das Wissen, dass alles tatsächlich passiert ist, macht die Lektüre von „Drei Söhne“ noch beklemmender.
Helen Garner schaut genau hin, hört genau zu, beschreibt detailgenau die Prozessbeteiligten. Sie verhüllt auch nicht die Müdigkeit und den Überdruss, die die Zuhörer und Geschworenen von Zeit zu Zeit packen. Auch der Leser bleibt davon nicht ganz verschont, werden zum x. Mal die Markierungen der Reifenspuren oder die hypothetischen Lenkbewegungen diskutiert. Auch die dramatischen Gefühlsausbrüche aller Beteiligten, die sich in Tränenströmen und übergroßen Taschentüchern zeigen, berühren bald eher unangenehm. Das macht das Buch aber nur noch intensiver. Es ist fast, als säße man mit im Gerichtssaal, verfolge den Prozess genauso unmittelbar wie die Autorin. Trotz ihrer sachlichen, lakonischen Sprache, die aber immer wieder ins Persönliche kippt, mitunter auch sehr poetisch werden kann, packt Helen Garner mit ihrem Buch ungemein. Sie zieht ihre Leser ganz tief hinein in diesen unglaublichen Fall und verstört ihn nachhaltig. Dabei ist sie sich ihrer eigenen Zweifel und Einwände durchaus bewusst, handelt es sich doch bis zum Ende um einen reinen Indizienprozess.
Einerseits ist es die Tat, die sprachlos macht. Diese ungeheuerlich Erkenntnis, dass nicht nur kleinen, arglosen Kindern solch Entsetzliches angetan werden kann, sondern dass die Tat auch noch von dem Menschen verübt worden sein soll, der eigentlich für Schutz und Wohl der Kleinen erster Garant gewesen sein sollte. Es ist das Entsetzen, das einen jedes Mal von neuem angesichts solcher Taten packt. Ich jedenfalls werde das Bild dieser drei lachenden kleinen Jungs so bald nicht loswerden.
„Wenn ich mir erlaube, an Jai, Tyler und Bailey zu denken, wie sie in ihrem ruhigen Friedhof liegen und die goldenen Symbole von Bob dem Baumeister und den Bombers über sie wachen, dann stelle ich mir vor, wie ihre Familienangehörigen eifersüchtig toben: „Sie kennen sie gar nicht. Wie können Sie es wagen, von ihrer „Trauer“ zu sprechen?“
Es gibt aber kein anderes Wort, das zutrifft. Denn jeder Fremde trauert um sie. Jeder Fremde hat ihretwegen ein gebrochenes Herz. Das Schicksal der Kinder ist rechtmäßig auch unsere Angelegenheit. Wir haben sie zu beklagen. Jetzt sind wir alle Angehörige.“
Helen Garner ist mit „Drei Söhne“, im Original „This house of grief“, ein erschütterndes Buch gelungen, das noch sehr lange nachhallen wird. Großartig!
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