Rezension zu "Im Takt der Natur" von Helen Pilcher
Kennen Sie Leute, die sich bei Langeweile in den Ohren pulen? Zeitabläufe werden ja unterschiedlich wahrgenommen, aber dass sie sich anhand von Ohrenschmalz sogar wissenschaftlich messen lassen, war mir neu. So ist es beim Wal. Kuriose Details und grundlegendes Wissen über natürliche Zeitfolgen und Rhythmen präsentiert „Im Takt der Natur“ aus dem Haupt Verlag.
Schon Mitte Januar ist jedes Jahr der „Wirf-Deine-Neujahrsvorsätze-über-Bord-Tag“, eine kuriose Erinnerung an die Kurzlebigkeit manches schwungvollen Gedankens. Aber Zeit für was Neues ist eigentlich immer. Neue Vorsätze, ein neuer Job, neuer Frieden, vielleicht sogar mal ein paar neue Slogans? Einschnitte wie der Jahreswechsel oder Festtage bieten nicht nur Anlass zum Feiern und Feuern, sondern helfen – gerade wenn sie rhythmisch wiederkehren – beim Rundumschauen, Sich-Zurechtrücken und Wieder-Eintauchen in den Fluss der Dinge. Rhythmus ist das Geheimnis des Lebens, genauer: jeder Entwicklung. Rhythmus – das heißt, es geht nicht immer nur aufwärts, höher, hin zu mehr, sondern alles schwingt. Und stößt anderes zum Schwingen an. Genau das ist Entwicklung.
Auch die Natur, selbst die unbelebte, ist in Zeitphasen und Rhythmen organisiert. Wie, das zeigt Helen Pilcher in ihrem Buch „Im Takt der Natur“, das mit einer Menge überraschender und amüsanter Fakten aufwartet und sie in eine Art schwingender Ordnung bringt. Anand zahlreicher Beispiele gibt sie einen Einblick in die überwältigende Vielfalt von Pflanzen und Tieren, ihrer merkwürdigen Verhaltensweisen und Beziehungen. Willkommen zum Penisfechten der Perserteppich-Plattwürmer (was für ein schöner „natürlicher“ Stabreim!) und zum Festmahl der knochenfressenden Rotzblume in tiefer See! Erfahren Sie, wie ein mexikanischer Warzenkaktus seinen Samen elterliche Fürsorge angedeihen lässt und wie eine Qualle das Geheimnis ewiger Jugend und Unsterblichkeit gelöst hat!
Originell und informativ veranschaulicht Pilcher, wie unsere Lebens-, Wachstums- und ökologischen Zyklen zusammenhängen, wie stark die Verbindungen sind und wie fragil zugleich die Balance des Gesamten. Die Veränderung eines Elements bringt das Ganze aus dem Schwingen. So beschleunigte die Verschiebung der Jahreszeiten in den letzten Dekaden beispielsweise den Zyklus von Ruderfußkrebsen und zerstörte ihre Synchronität mit Sandaalen, womit wiederum Papageitauchern die Nahrung fehlt, so dass ihre Population enorm abgenommen hat. Dies setzt sich wie in einer Kettenreaktion weiter fort. Dabei hat die Erde bereits fünf Massenaussterben erlebt – ob wir gerade in einem sechsten stecken, das auch uns mitreißen wird, hängt von unserer Wahrnehmung und unserem Handeln ab.
Ein guter Zeitpunkt also, um innezuhalten und um sich zu schauen. Die Zeit kurz anzuhalten und ihren Takt wahrzunehmen. Apropos wahrnehmen: Katzen, Hunde und Stubenfliegen erleben das, was wir uns in guten Momenten wünschen: Die Zeit vergeht für sie viel langsamer, wie in Zeitlupe. Das erklärt ihre im Vergleich zu uns schnelleren Reaktionen. Bei anderen Tieren ist es umgekehrt, Lederschildkröten etwa erleben alles wie im Zeitraffer. Entsprechend unterschiedlich lange dauern die Verdauungsphasen verschiedener Spezies (zwischen zwei und dreihundert Stunden in den von Pilcher gewählten Beispielen), ihr Schlaf oder auch ihre Paarungsakte (von zwei Sekunden bis mehr als zwei Jahre (!)).
„Im Takt der Natur“ ist eine Sammlung grundlegenden und zugleich neuen, spannend präsentierten Wissens, die sich genussvoll von vorn bis hinten durchschmökern und nur schwer aus den Händen legen lässt. Ja, sie hätte gern umfangreicher sein können. Dazu trägt, wie stets im Haupt Verlag, die schöne Gestaltung bei, deren zahlreiche Fotos, Grafiken und Illustrationen den Schwerpunkt der Darstellung bilden. Das Buch eignet sich damit auch als Nachschlagewerk und als vielfältiger Gesprächsanlass; die Rezensentin jedenfalls hat mit der Evolution ihres biologischen und ökologischen Wissens beim Lesen fortlaufend Familie und Freunde unterhalten. Langeweile kam dabei auf keiner einzigen Seite auf.
Warum just Koalas so lange schlafen, habe ich zwar nicht erfahren, dafür aber, wer denn nun zuerst da war, das Huhn oder das Ei. Alles schwingt, auch mein Wissen. Und definitiv der Rhythmus von Neujahrsvorsätzen und Realität. Zeit also für einen neuen Versuch. Und unbedingt ein paar neue Bücher, wie dieses.