Rezension zu "Die Zerbrechlichkeit des Glücks" von Helen Schulman
"Das verdammte Video war einfach überall. Es verstopfte Jakes Mailbox, irgendwelche Leute schickten es ihm, ohne zu wissen, dass es ja für ihn gedacht gewesen war, dass er Muse und Inspiration dafür war und es selber verbreitet hatte. Es war einfach überall." (Seite 89)
Diese Geschichte hat ein Problem: Man bekommt etwas anderes als der Klappentext verspricht. Wenn man ehrlich ist, muss man gestehen: Man bekommt sogar deutlich mehr, als man erwartet. Aber es ist eventuell nicht das, was man gesucht hat und deswegen, wenn man es liest, vielleicht nicht das richtige. Wie kommt das nun?
Wer den Klappentext liest, erwartet einen kurzen Roman über Teenager und über Cybermobbing. Das Video, das im gesamten Buch nie detailliert beschrieben wird, scheint im Mittelpunkt zu stehen. Tatsächlich kommt beides in diesem Roman vor: Teenager und natürlich auch das Video. Doch dieses Video bringt lediglich ein Fass zum Überlaufen und im eigentlichen Mittelpunkt steht eine komplette Familie. Es geht um Jake, der das Video erhält, seine Eltern und seine Adoptivschwester. Es geht um ihre Wünsche, ihre Vergangenheit, ihr Zukunft und ihre Zukunftsplanung. Es geht also damit um so viel mehr, als nur um dieses Video. Aber die Verbreitung der E-Mail, die Verbreitung des erotischen Inhalts löst eine Lawine von unabsehbaren Folgen aus.
"Die schwindelerregende Folge eines einzelnen Tastendrucks seines Sohnes, das stupende, unabänderliche Ausmaß seiner entfesselten Kraft - irgendwie war es unfassbar, was Jake angestellt hatte." (Seite 121)
Alles könnte so perfekt sein: Der Vater ist ein "hohes Tier" und verdient gut, hat Einfluss,. Die Familie besteht aus einem leiblichen Sohn und einer asiatischen adoptierten Tochter, sie haben ein Haus, ein geregeltes Einkommen. Der Sohn bringt gute Note aus der Schule. Das Mädchen im Kindergarten ist liebreizend, aber hinter der ach so schönen Fassade brodelt es trotzdem: Jakes Mutter hat für die Familie, die Kinder ihre Karriere aufgegeben und findet sich kaum zurecht in ihrem Leben als Hausfrau und Mutter. Der Vater arbeitet viel und hart, hat deswegen kaum Zeit für die Familie. Jake selbst befindet sich in der typischen Identitätsfindungsphase.
"Der erste Schritt in einen noch formlosen, unstrukturierten Tag war immer der schwerste."(Seite 20)
Und nachdem nun der erste Dominostein in Stolpern gebracht wurde, kippen sie alle um und plötzlich muss man sich fragen: War es je das wahre Glück, das diese Familie gefunden hat? Der Originaltitel "This Beautiful Life" ("Dieses schöne Leben") passt perfekt. Denn es ist das Leben, von dem viele von uns träumen und das von Außen so perfekt aussieht. Aus diesem Grund regt das Buch zum Nachdenken an, über das eigene Leben, über die eigenen Wünsche, über die eigene Zukunft.
Verpackt ist dies in eine Geschichte, die bei jedem Zuhause oder beim Nachbarn nebenan genauso passieren kann. Man weiß, dass Jake nie so etwas beabsichtigt hat, obwohl es ihm später von allen Seiten vorgeworfen wird. Man weiß, dass alle nur ihr Bestes versuchen, aber das macht es noch schlimmer. Und dann wird es teilweise sehr drastisch. Menschen gehen auch manchmal krasse Wege, wenn sie keinen anderen Ausweg sehen.
Die Sprache, die durch lange Sätze und manchmal etwas bemühter gehobener Klasse, nicht immer ganz einfach ist, erschwert etwas den Einstieg, aber man kann sich an sie gewöhnen, sodass der geübte Leser vermutlich etwas länger für die 250 Seiten braucht, aber nach einer Weile auch nicht mehr über die Sätze stolpert.
"Es ist bloß... dieses schöne Leben ... ich komm damit nicht klar", flüsterte sie. (Seite 238)
Fazit: Wenn man schon vor dem Lesen akzeptiert, dass es um mehr geht als nur die Cybbermobbing-Geschichte, wenn man akzeptiert, dass man einen Blick bekommt auf die tiefen Abgründe, die sich hinter der Fassade des schönen Scheins einer perfekten Familie verbergen, dann erhält man hiermit ein Buch, das das wahre Leben zeigt und mit drastischen Mitteln zum Nachdenken anregt.