Cover des Buches Vom Aufstehen (ISBN: 9783423282789)
Rezension zu Vom Aufstehen von Helga Schubert

Die leise Wucht ehrlicher Worte⁣

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 3 Jahren

Kurzmeinung: Helga Schubert erzählt ganz unspektakulär, mit ruhigen Worten, hat aber viel zu berichten aus ihrem langen Leben.

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 3 Jahren

Bedachtsam, einprägsam, wundersam: “Vom Aufwachen” liest sich wie aus einem Guss, obwohl die einzelnen Episoden in zahlreiche Zeitebenen und Themenbereiche zersplittern. Dabei werden die Risse, Macken und Schweißnähte dieses Lebens keineswegs versteckt oder beschönigt – gerade das hat die fragile Schönheit von japanischem Kintsugi.⁣

Nicht alle Geschichten sind gleich ausdrucksstark oder gleich dicht; manche wirken beinahe wie Auszüge aus einem Tagebuch, das nicht für fremde Augen bestimmt ist und das man daher auch nur oberflächlich erfassen kann. Aber das Gesamtbild ist leuchtend und wirkungsvoll, ein wunderbarer Einblick in dieses Leben und diese Epoche(n) der Geschichte.⁣

“Alles gut.”⁣

Diese Worte fallen im Buch immer wieder, oft gerade dann, wenn eben nicht alles gut ist. Halbwaise, Kriegskind, Flüchtlingskind, später Schriftstellerin in der DDR, Tochter einer toxischen Mutter, Ehefrau eines pflegebedürftigen Mannes und mehr – Helga Schubert hat viel zu erzählen und erfüllt dabei ihre eigenen Anforderungen an gute Geschichten.⁣

“Die guten Geschichte sind wie das Leben tragikkomisch, plötzlich reißt mich die Geschichte aus dem Mitleid in die Ironie, aus der Ironie in die Verachtung, aus der Verachtung ins Verständnis. Und alles in dem Moment, in dem ich mich auf eine Sicht eingelassen hatte.”⁣

(ZITAT)⁣

Im Zentrum stehen meines Erachtens vor allem der Untergang der DDR und der Untergang einer von vorneherein zum Scheitern verurteilten Mutter-Tochter-Beziehung. Nebenher gewährt das Buch auch noch scheinbar wahllose Einblicke in Helga Schuberts Leben – kleine Einsprengsel, die sich aber dennoch immer ins große Ganze einfügen und dadurch als durchaus relevant erweisen.⁣

Da ich immer schon im Westen Deutschlands lebte, war die DDR für mich als Kind und Jugendliche ganz weit weg. An den Mauerfall kann ich mich zwar gut erinnern (da war ich 13 und fühlte mich mittendrin), an die Euphorie, die Ernüchterung, die Vorurteile – aber eben immer nur aus der Ferne. Später habe ich Bücher gelesen, Dokumentationen gesehen, Museen besucht.⁣

Aber “Vom Aufstehen” gibt mir das Gefühl, jetzt erst zumindest leise erahnen zu können, wie sich das Leben in der DDR anfühlte – insbesondere für eine intelligente kreative Frau, deren Tätigkeit als Schriftstellerin sich notwendiger Weise beißen musste mit Zäsur und Propaganda.⁣

“Wenn du doch damals nach der Flucht gestorben wärst.”⁣

Das sagt die Mutter einmal ganz ruhig. Sie ist ihrer Tochter gegenüber meist eiskalt und verbittert; sie schlägt, straft und ätzt. Und doch hat Helga auch eine Erinnerung daran, wie sie als kleines Mädchen lebensbedrohlich erkrankt war und die Mutter mit der Waffe an ihrem Bett saß: “Wenn du jetzt stirbst, erschieße ich mich.” An diesem Widerspruch reibt sich Helga ihr ganzes Leben lang.⁣

Meist werden die Episoden aus der Ich-Perspektive erzählt. Nur manchmal tritt die Autorin einen Schritt zurück und spricht in Episoden, die besonders das Verhältnis zur Mutter thematisieren, von sich selber in der dritten Person als “ihre Tochter”. Will sie uns damit zeigen, wie wenig Halt dieses Familiengefüge ihr gab, wie wenig verwurzelt sie darin war? Sie nimmt ihre Identität ganz heraus aus diesem Konstrukt, in dem sie sich selber den Namen verweigert und sich nur auf ihre Rolle als Tochter reduziert.⁣

Diese Beziehung schmerzt beim Lesen. Die Tochter trägt sie mit sich wie ein ewig blutendes Stigma. Selber schon eine alte Frau, sucht sie nach dem Tod der Mutter schließlich geistlichen Rat, weil sie das vierte Gebot nicht befolgen könne. Doch die Pastorin sagt ihr, sie habe sich da ganz umsonst bekümmert – das Gebot verlange lediglich Achtung, Liebe sei freiwillig und immer ein Geschenk.⁣

So ganz leise schwingt da ein Aufatmen in den Worten mit, ein Abschluss, vielleicht sogar ein Stück weit Vergebung. Überhaupt kann die Autorin das gut, ganz lebensklug mit leisen Tönen auch Versöhnliches transportieren.⁣

Generell ist die Sprache eher schlicht. Sie ist glasklar und prägnant, bar jeden Kitsches oder unnötiger Verschnörkelung. Kein Pathos, keine emotionale Anklage – und doch hat der Text keine Kälte, keine Sterilität. Die Themen kommen und gehen, und doch schwingt jedes davon lange nach, so dass sie sich zu einem großen Themenkomplex vermischen.⁣


Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:

https://wordpress.mikkaliest.de/rezension-helga-schubert-vom-aufstehen/

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