William Faulkner, Schall und Wahn, TB Diogenes 1973, 303 Seiten
Faulkner leitet den Roman Schall und Wahn mit einer dreizehnseitigen Genealogie der Familie Compson, um deren Mitglieder es geht, ein. Es folgen vier lange Kapitel, in denen jeweils aus dem Blickwinkel eines Mitglieds Ereignisse und Gedanken aus Vergangenheit und Gegenwart geschildert werden.
Benji, der jüngste Sohn, präsentiert seine Eindrücke am 7. April 1928. Er ist geistig behindert und wird von Luster, dem Sohn der Bediensteten, betreut. Benji (Benjamin) äußerst sich durch Schreien, Wimmern und Brummen und seine Eindrücke sind hauptsächlich visueller Natur. Seine Gedanken drehen sich um das, was stattfindet.
Bereits in diesem Kapitel ist es sinnvoll, als Leser seine eigenen Gedanken abzuschalten und sich auf das Geschriebene zu konzentrieren. Auf diese Art ist es unproblematisch, den Gedanken Benjis zu folgen und einzuordnen, wenn eine andere Person etwas denkt oder spricht (z.B. Caddy, seine Schwester, oder Luster, sein Betreuer).
Die Satzzeichen für wörtliche Rede oder für Gedanken spart Faulkner meist aus. Wenn man sich konzentriert und die Jahreszahl und somit das entsprechende Alter der Protagonisten im Kopf behält, weiß man stets, wer gemeint ist.
Sollte man Schwierigkeiten haben, in die Geschichte hineinzufinden, ist es hilfreich, sich mal fünf oder zehn Seiten laut vorzulesen. Denn der Roman hat einen packenden, subtextreichen Inhalt, der fesselt und stark beeindruckt.
Das zweite Kapitel, 2. Juni 1910, ist aus der Sicht von Quentin, dem erstgeborenen Sohn, geschildert. Er studiert in Harvard, kommt da nicht klar, kauft sich zwei Bügeleisen und geht damit in den Fluss. Interessant sind u.a. seine Gedanken zu Caddy, seiner Schwester, die eine uneheliche Tochter hat – meiner Meinung nach liegt in dieser Beziehung der Grund für Quentins Selbstmord.
Der dritte Teil, 6. April 1928, zeigt Jason, das dritte Kind. Er ist zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre alt, arbeitet als Angestellter und zockt an der Börse. Alles ohne Erfolg. Nebenbei greift er das Geld ab, das seine verstoßene Schwester Caddy monatlich an ihre Tochter Quentin schickt, die im Haus der Familie lebt. Jason bunkert es in einer Kassette in seinem Zimmer, das er stets abgeschlossen hält. Er ist ein frustrieter, aggressiver, gestresster, unhöflicher Mensch und gibt insbesondere seiner Familie Schuld an seinem verpfuschten Leben.
Das Kapitel war für mich recht anstrengend zu lesen, da es mich psychisch sehr mitgenommen hat. Die Aggressionen und Gestörtheiten Jasons konnte ich oft nicht länger als zehn Seiten ertragen und musste eine Pause einlegen.
Ein neutraler Erzähler schildert den vierten Teil, 8. April 1928. Einige der Handlungsstränge laufen hier zusammen und kulminieren im Diebstahl von Jasons 'sauer' Angespartem. Er erleidet einen Nervenzusammenbruch (meine Interpretation).
Faulkner schildert eine Familie, die in der Vergangenheit eine gewisse Bedeutung innehatte. Der Vater, Jason senior, wird wegen Frust und Versagen zum Alkoholiker; die Mutter, Caroline, liegt Tag für Tag im verdunkelten Zimmer und betont ständig, wie gut sie alles gemeint hat und dass ihr keine Schuld zuzuschreiben sei; der älteste Sohn Quentin bringt sich um; die Tochter Caddy benimmt sich wie eine Hure und bekommt ein uneheliches Kind (Quentin); Jason ist hochgradig aggressiv und muss nach dem Tod des Vaters die Familie versorgen. Dann sind da noch die Bediensteten der Familie, die sie sich eigentlich gar nicht mehr leisten können und über deren Anwesenheit sich Jason ständig beklagt ("... ich muss ein Haus voller Nigger durchfüttern..."). Luster ist der Pfleger von Benji (entwickelt aber Aggressionen gegen den Behinderten), und Dilsey, Lusters Mutter, kocht für die Familie – womit zumindest diese beiden eine Aufgabe erfüllen.
Für mich verkörpert Benji die komprimierte Gefühlslage der Familienmitglieder in ihrer Gesamtheit – alle psychisch hochgradig instabil, schaffen es nicht, sich mitzuteilen und suchen die Schuld für ihre suboptimalen Leben bei anderen.
Der Roman ist deshalb so interessant und inspirierend, weil nicht alles ausgesprochen und erklärt wird, sondern man mitdenken kann/soll.
Zudem ist der Text so gut geschrieben, so komplex in seiner Darstellung der Personen und Geschehnisse, dass ich komplett hineingezogen wurde und Spaß daran hatte, über die Handlung nachzudenken. Erzählstimme und Stil haben mir gut gefallen, und obwohl der Roman 1929 das erste Mal publiziert wurde, wirkt er nicht verstaubt oder altbacken.