Beginnend mit den rein geographischen und politischen Grenzen, die einerseits von der Natur gegeben sind (Rhein, Alpen etc.), andererseits willkürlich gezogene Linien auf der Landkarte sind (ehemalige DDR, Polen, Österreich, Grenze zu Dänemark, Benelux-Staaten etc.) schildert Helmut Walser Smith die verschiedenen Entwicklungsschritte, das 'Werden' Deutschlands.
Er berücksichtigt dabei die rein kulturellen Auswirkungen (Literatur, Denkmäler als Beispiele) ebenso wie die zahlreichen Kriege, die in der Mitte Europas geführt wurden. Wobei deren mittelbaren Auswirkungen wie Hungersnöte, Veränderungen der Arbeitswelt durch das Nichtmehr-Vorhandensein von maskulinen Arbeitskräften (die (Ehe-) Männer waren in den Kriegen getötet worden). Die psychische Prägungen der Jugend durch das von der geschichtlichen Vergangenheit beeinflussten Schulsystem und dessen Lerninhalten.
Die Reproduktion zahlreicher historischer Karten, teilweise mit zusätzlichen Informationen versehen, Diagramme, Schwarz-Weiß-Fotos untermauern die Feststellungen des Autoren. Wer seine auf Fakten beruhenden Feststellungen anzweifelt, der kann im 89 Seiten umfassenden Quellen- und Literatur-Verzeichnis nachlesen, wo diese Fakten zu finden sind. In diesem Anhang ist auch je ein ausführliches Personen- und Ortsregister zu finden.
Der Autor schreibt in einem hervorragenden, gut lesbaren und nicht mit Fremdworten durchsetzten Stil. Dabei nimmt er erfreulicherweise keine Rücksicht auf Fakten, die so gerne unter den Teppich gekehrt werden.
Ein Beispiel von vielen möglichen. Es geht um die Zeit des Überganges von der Nazi-Diktatur zur jungen Bundesrepublik, die 68er-Bewegung. Hierzu die Namen Rudi Dutschke, Fritz Teufel, Rainer Langhans, Beate Klarsfeld als Anhaltspunkte.
Zitat Seite 511:
"Vielmehr waren es die konservativen Politiker mit einer [aus der Nazi-Diktatur; Anm. WS] befleckten Vergangenheit, die den öffentlichen Zorn auf sich zogen - Leute wie Hans Globke, Chef des Bundeskanzleramtes unter Adenauer, der Kommentare zu den Nürnberger Gesetzen verfasst hatte, und Theodor Oberländer, Minister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, der früher auf die Vertreibung der Juden aus Polen und die Enteignung ihres Eigentums gedrängt hatte und dessen Einheit am Massaker von Lwów im Sommer 1941 beteiligt waren. Auch der zweite Bundespräsident, Heinrich Lübke, hatte eine nationalsozialistische Vergangenheit, ebenso wie der dritte Bundeskanzler, Kurt Georg Kiesinger, dem die junge Bate Klarsfeld eine Ohrfeige verpasste, denn er stehe für «das abstoßende Gesicht der zehn Millionen Nazis»."
H.W. Smith geht auch ausführlich auf die völlig unterschiedliche Be- und Verarbeitung des 'Nazi-Erbes' in der BRD und der DDR ein. In Kenntnis dieser Unterschiede lässt sich auch erkennen, weswegen die vom Verfassungsschutz wegen rechtsradikaler Strömungen zumindest unter Beobachtung stehende AfD besonders in einigen der 'neuen' Bundesländer derart viel Zuspruch hat.
Fazit: Lesen!