Henry Kamens Buch "Philip of Spain" steht in einer langen Ahnenreihe englischsprachiger Biographien des zweiten spanischen Königs aus dem Hause Habsburg. Waren viele ältere Werke aus der Feder englischer Historiker noch vom Zerrbild Philipps II. als Despot und religiöser Fanatiker geprägt, so setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein sachlicher und nüchterner Blick auf den König durch. Für die wissenschaftlich seriöse Auseinandersetzung mit Philipp II. stehen etwa die Biographien von Charles Petrie (1963) und Peter Pierson (1975), die seinerzeit auch auf Deutsch erschienen. Den von Petrie und Pierson eingeschlagenen Weg haben Geoffrey Parker und Patrick Williams konsequent weiterbeschritten. Ihre Bücher über Philipp II. (Parker 1978 und 2014, Williams 2001) sind unverzichtbare Standardwerke. Während es auf dem deutschen Buchmarkt bis heute keine umfassende Biographie des Königs auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes gibt, können britische und amerikanische Leser zusätzlich zu den Werken von Parker und Williams die Biographie von Henry Kamen heranziehen. Das Buch ist zwar bei Yale University Press erschienen, richtet sich aber nicht nur an Fachleute, sondern an einen breiten Leserkreis. Es ist sehr verständlich und ansprechend geschrieben.
Kamen möchte dem Herrscher und Menschen Philipp gleichermaßen gerecht werden. Das ist ihm hervorragend gelungen. Er hält in seinem Buch eine gute Balance zwischen dem Politischen und dem Privaten. Ähnlich wie Geoffrey Parker zeigt Kamen Philipp II. als Monarchen, der nicht allein für seine Herrscherpflichten lebte, sondern vielfältigen Interessen nachging und ein Leben neben der Politik besaß. Philipp II. war ein typischer Renaissance-Herrscher, ein leidenschaftlicher Bauherr, Sammler und Mäzen. Seine enorme Arbeitsbelastung hielt er nur aus, weil er sich Freiräume schuf, die ihm Entspannung und Zerstreuung ermöglichten. Im Vorwort erhebt Kamen den Anspruch, "ein radikal anderes Bild" von Philipp II. zu entwerfen als frühere Autoren. Das ist zu hoch gegriffen, wie sich bei der Lektüre des Buches zeigt. Kamen geht nicht über das hinaus, was Parker schon 1978 in seinem reizvollen biographischen Porträt des Königs bot. Kompetent und in gut lesbarer Form behandelt Kamen alle Aspekte und Themen, die für Philipps Innen- und Außenpolitik von Bedeutung sind. Beachtung verdient sein Hinweis, bei der Beurteilung von Philipps Leistungen als König den vormodernen Charakter der spanischen Monarchie nicht zu ignorieren. Das Spanien Philipps II. war kein Zentralstaat, und es wurde vom König auch nicht mit absolutistischer Machtfülle regiert. Es ist richtig und notwendig, die Grenzen monarchischer Macht im 16. Jahrhundert aufzuzeigen. Das darf aber nicht dazu führen, Philipp II. als einen Herrscher darzustellen, der keinen politischen Handlungs- und Gestaltungswillen besessen habe.
Kamen bezweifelt, dass Philipp II. eine kohärente Innen- und Außenpolitik betrieb. Er behauptet, der König und seine Minister hätten nur auf Ereignisse reagiert, aber kein übergeordnetes politisches Programm verfolgt (S. 218). Im Epilog spitzt Kamen seine Einschätzung, Philipp II. habe im Grunde nur Tagespolitik betrieben, zu einer provokanten These zu, die vollständig zitiert zu werden verdient: "Zu keinem Zeitpunkt übte Philipp eine adäquate Kontrolle über die Ereignisse oder seine Königreiche aus. Daraus folgt, dass er nur für einen kleinen Teil von dem verantwortlich war, was sich unter seiner Herrschaft zutrug. (...) Trotz seiner Macht konnte er nicht verhindern, dass seine Reiche in einen Strudel aus Krieg, Schulden und Verfall hineingezogen wurden [being sucked into a whirl of war, debt and decay]" (S. 320). In Anlehnung an Fernand Braudel sieht Kamen in Philipp einen "Gefangenen des Schicksals". Wer die Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten eines frühneuzeitlichen Monarchen für so begrenzt hält, der muss sich fragen lassen, ob der biographische Ansatz angesichts dieser Prämisse überhaupt noch sinnvoll ist. Die Formulierung, Spanien sei in Kriege "hineingezogen" worden, suggeriert, dass Philipp II. keinerlei Schuld an den Kriegen seiner Regierungszeit trug. Vollständiger Frieden herrschte im Spanischen Weltreich nur für ein halbes Jahr, von Februar bis September 1577. Davor und danach führte Philipp II. permanent Krieg. Die Verantwortung dafür kann man nicht ausschließlich bei Spaniens Gegnern oder gar gesichtslosen Schicksalsmächten suchen.
Der Leser ist gut beraten, Kamens verharmlosendes Bild des Machtpolitikers und Kriegsherrn Philipp mit den Einschätzungen von Geoffrey Parker und Patrick Williams abzugleichen. Diese beiden Historiker gelangen zu anderen Ergebnissen. Williams zeigt, dass sich Philipp II. in der zweiten Hälfte seiner Herrschaft durch den anschwellenden Zustrom amerikanischen Silbers zu einer offensiven und militanten Außenpolitik verleiten ließ, die zu zahlreichen Niederlagen führte. Dieser Zusammenhang taucht bei Kamen nirgends auf. Parker macht deutlich, dass die Beschlüsse und Entscheidungen des Königs sehr wohl den Lauf der Geschichte beeinflussten, oft zum Schlechten. Darüber hinaus benennt Parker religiös grundiertes Sendungsbewusstsein ("messianischer Imperialismus") und Selbstüberschätzung als Faktoren, die Philipps politisches Handeln bestimmten. Der König hielt sich für Gottes Werkzeug im Kampf gegen alle Feinde des Christentums bzw. der katholischen Kirche. Obgleich auch Kamen aus vielen Briefen und Papieren Philipps II. zitiert, dringt er nicht so tief in die Psyche und Gedankenwelt des Königs ein wie Parker. In Parkers quellensatter Darstellung wird eine obsessive Persönlichkeitsstruktur sichtbar, für die Kamen kein Gespür hat. Auch er erwähnt, dass Philipp II. im Laufe seines Lebens mehr als 7.400 Reliquien zusammentrug, lässt aber diese Tatsache, die viel über das Wesen des Königs sagt, unkommentiert (S. 189). Kamen bietet, das lässt sich nicht bestreiten, ein farbiges und facettenreiches Porträt Philipps II. In erzählerischer Hinsicht ist das Buch ein geglückter Wurf. Es ist aber nicht zu übersehen, dass Kamen blind ist für die abgründigen und problematischen Charakterzüge des Königs, die für die Geschicke Spaniens und des Spanischen Weltreiches von nicht zu unterschätzender Bedeutung waren.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Juni 2016 bei Amazon gepostet)