Rezension zu "Bartleby, der Schreiber" von Herman Melville
Wenn man in Wikipedia den Begriff "Bartleby, der Schreiber" eingibt, dann erscheint ein Artikel, der fast so lang ist wie die Erzählung selbst. Nun ja, vielleicht ist das etwas übertrieben, aber über den nur 70 Seiten kurzen Klassiker ist im Verlauf der Zeit so viel geschrieben, interpretiert und analysiert worden, dass man sich fast genauso viele Stunden Musse für die Abhandlungen und wissenschaftliche Artikel nehmen muss wie für die Lektüre. Sofern man dies möchte. Bartleby, von dem die Geschichte erzählt, würde mit Gewissheit vorziehen, dies nicht zu tun.
Herman Melville erzielte mit dem Kurzroman nicht den gewünschten Erfolg. Wie auch schon bei "Moby Dick", der sich zu Lebzeiten des Autors nur dreitausend Mal verkaufte, blieb der finanzielle Erfolg aus, was damals sicherlich als Reaktion auf Melvilles erzählerische Eigentümlichkeit und verwegene Themenwahl verstanden werden konnte. Heute gelten beide Werke als absolute Meisterwerke der klassischen Weltliteratur. "Bartleby, der Schreiber" wurde vierzehn Mal in die deutsche Sprache übersetzt und auch von zahlreichen Verlagen veröffentlicht. Bei meinem Exemplar handelt es sich um die Ausgabe von 2010 des Anaconda Verlags, der für die Verlegung von Weltliteratur-Klassikern bekannt ist. Die Übersetzung aus dem amerikanischen Englischen besorgte Felix Mayer.
Man begegnet bei fremdsprachigen Werken immer wieder der Frage, wie gut eine Übersetzung denn gelungen sein mag. Hierfür müsste man das Original gelesen haben und auch alle anderen Übertragungen, um sich ein abschliessendes Bild machen zu können, was unmöglich ist. Felix Mayers Übersetzung, ohne die anderen zu kennen, scheint mir dennoch gelungen, sie gibt eine gepflegte Sprache Melvilles wider, die reiche sprachliche und stilistische Variation seiner Prosa. Die Geschichte wurde Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verfasst, in einer Zeit, in der man sich noch respektvoller und diplomatischer auszudrücken wusste, wie ich finde. Für heutige Begriffe vielleicht altmodisch. Aber schön und wohlklingend.
Was meiner persönlichen Vorliebe entspricht, ist die gelungene Komposition kurzer und langer Sätze, letztere auffallend oft durch die Verwendung von Semikolons über mehrere Zeilen führend. Und wenn die Geschichte sich auch durch eine Art innerer Monolog des Erzählers, der die Leserschaft mit entsprechenden Ausdrucksweisen geschickt einzubeziehen weiss ("Es mag nun scheinen, als gäbe es keinen Grund, mit dieser Geschichte fortzufahren" ... oder: "Doch bevor ich mich von meinem Leser verabschiede" ... oder: "Bevor ich nun den Schreiber so vorstelle, wie er mir bei der ersten Begegnung erschien" ...) sind die wenigen Dialoge immer passend eingeflochten, sorgen für ein abgerundetes Bild und dafür, dass wir nicht in den inneren Gedankengängen des Erzählers versinken.
Die Geschichte ist Mitte des neunzehnten Jahrhunderts angesiedelt. Ich-Erzähler (Ich bin nun schon ein älterer Mann) ist ein Rechtsanwalt mit eigener Kanzlei an der Wall Street, der drei Angestellte, zwei Kanzleikopisten sowie einen Laufburschen, beschäftigt. Ehe er von Bartleby berichtet, eines dieser Geschöpfe, über die sich nichts in Erfahrung bringen lässt, und den er als dritten Kopisten in seiner Kanzlei einstellt, stellt er dem Leser die drei anderen Mitarbeiter vor - Turkey, Nippers und Ginger Nut. Dies, wie ich finde, in äusserst origineller Art und Weise, schliesslich sind auch die Figuren von äusserst originellem Charakter. Im Vergleich hierzu kann der namenlose Ich-Erzähler über Bartleby, den merkwürdigen Neuen, nahezu nichts berichten. Aber auch nichts gegen ihn verwenden; seine stille, ruhige, stets gelassene Art macht dem Rechtsanwalt Eindruck, denn Bartleby ist ein fleissiger Angestellter und nimmt sich nie eine Auszeit. Anfänglich. Denn schon bald beginnt Bartleby die Arbeit zu verweigern. Aufträge seines Vorgesetzten lehnt er in sanftem Ton ab, erklärt lediglich, es vorzuziehen, das Verlangte nicht zu tun.
So beginnen die Schwierigkeiten, der innere Kampf des Erzählers mit sich selbst, mit seinem Gewissen, seinen Glaubensgrundsätzen, die an wenigen Stellen des Buches durchscheinen; so beginnt sein Ringen mit seinem Unverständnis über die geheimnisvolle aber selbstverständliche Untätigkeit Bartlebys, mit seinem Unvermögen, gegen diesen Arbeitsverweigerer vorzugehen, ihn auf die Strasse zu setzen, denn nichts anderes hätte er verdient. Doch Ärger, Empörung und Erregung sind Kräfte, die keinen Platz haben. Schliesslich ist der Erzähler ein Mann, der seit seiner Jugend von der tiefen Überzeugung erfüllt ist, dass die bedächtige Art zu leben die beste ist. Mitleid, Mitgefühl ist das, was die stumme Zurückhaltung Bartlebys in ihm erzeugt, den Drang, diesen Menschen zu verstehen.
Es kommt soweit, dass der Rechtsanwalt Bartleby vor seinen wütenden Angestellten in Schutz zu nehmen beginnt, und die Erkenntnis, dass sowohl Nippes und Turkey wie auch der Erzähler selbst Worte Bartlebys in ihren eigenen Wortschatz zu übernehmen beginnen (ich ziehe vor ...), was Befremden auslöst. Bartleby verweigert sich weiterhin, will nicht einmal Botengänge übernehmen, die ihm aufgetragen werden, da seine Augen für die Abschrift von Dokumenten überreizt und geschädigt zu sein scheinen, lässt schliesslich verlauten, dass er das Kopieren endgültig aufgegeben habe, und steht irgendwann, gleich eines Inventarstückes der Kanzlei, nur noch stumm an seinem angestammten Platz. Weshalb sollte er also bleiben? Alle Versuche des Rechtsanwalts, Bartleby vom Weggehen zu überzeugen, scheitern jedoch, weshalb es am Ende des Tages so weit kommt, dass nicht Bartleby geht, sondern der Rechtsanwalt an einem anderen Ort neue Räumlichkeiten bezieht und den unbelehrbaren Schweigsamen in seiner alten Kanzlei zurücklässt.
Weit gefehlt, zu glauben, dass Bartleby damit aus dem Leben des Rechtsanwalts geschieden wäre. Vom neuen Mieter der alten Räumlichkeiten und des Eigentümers wird er zur Verantwortung gezogen, denn Bartleby ist nicht aus der Kanzlei rauszukriegen. Noch einmal versucht der Rechtsanwalt, mit ihm zu reden, schlägt ihm andere Beschäftigungsgebiete vor, bietet ihm sogar eine Bleibe bei sich zuhause an, doch vergeblich. Nein, gegenwärtig würde er vorziehen, keinerlei Veränderung vorzunehmen. Die Geschichte endet tragisch, denn der neue Mieter der Kanzleiräume bringt nicht so viel Geduld auf wie unser besonnene Erzähler. Der unbewegliche Bartleby landet im Gefängnis, wird ironischerweise wegen Landstreicherei inhaftiert. Verweigert dort das Essen, verweigert sich selbst. "Ach Bartleby! Ach Menschheit!"
Von den anfänglichen Anstrengungen des Ich-Erzählers, auf Bartleby einzuwirken, verlagert sich die Geschichte auf sein Bemühen hin, ihn verstehen zu lernen. Es gibt in der Literatur viele Interpretationsversuche, die sich auf die Selbstentfremdung und gescheiterte Persönlichkeit des Kopisten beziehen, die einen Bezug herstellen wollen zwischen den zu Beginn der Geschichte beschriebenen Räumlichkeiten der Kanzlei und den Gefängnismauern am Ende des Buches. Man will in der Figur Bartlebys Ansätze eines Selbstportraits des Autors sehen oder eine Parabel auf die Lage eines erfolglosen Schriftstellers, der sich angesichts des Unverständnisses seiner Zeitgenossen letztlich verweigert. Wiederholt wurde Bartleby auch als Sinnbild für passiven Widerstand oder zivilen Ungehorsam verstanden. Heute würden ihm wohl psychotische oder neurologische Erkrankungen untergeschoben, oder autistische Züge.
Wie dem auch sei. Ich ziehe es vor, keine Deutungen vorzunehmen und das Werk als gelungenes Portrait einer skurrilen Persönlichkeit zu geniessen, als Schilderung einer dunklen Innenwelt eines Menschen, wie Kafka sie später verfolgt, und der erfolglosen Versuche eines Mitmenschen, diese zu ergründen und zu verstehen. Ein zeitloses Meisterwerk zweifelsohne. Ich bin diesem Büchlein diese Woche beim Besuch eines Gebrauchtbuchladens zufällig begegnet und musste es natürlich gleich erstehen und lesen, obwohl dies nicht geplant gewesen war. Die Lektüre hat sich gelohnt.
Review mit Zitaten und Bildern auf https://www.bookstories.ch/gelesenes1/bartleby-der-schreiber