Ich habe dieses Buch in einer Ausgabe aus dem Jahr 1948 zufällig auf einem Flohmarkt gefunden. Vom Autor kannte ich bis dahin nur ein dünnes Bändchen, betitelt schlicht "Wien" (auch lesenswert!); ansonsten kannte ich Bahr nur dem Namen nach, als einflußreiche, leicht exzentrische Figur aus der Wiener Zeit des Fin de siecle und als (selbsternanntes) Oberhaupt des "Jungen Wien". Aus diesem Kreis kennt man heute wohl noch Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten und v.a. Arthur Schnitzler. Vom recht umfangreichen Prosa-Schaffen Bahrs kannte ich bisher aber nichts. "Die Rotte Korahs" beschäftigt sich vor allem mit einem Thema: Dem Antisemitismus. Schon 1917/18, als das Buch entstand und auch spielt, ein großes Thema. Bahr war wie vielleicht kein zweiter berufen, darüber zu schreiben; schließlich waren die genannten Autoren des Jungen Wien alle jüdischer Herkunft, er selbst aber nicht.
Hauptfigur ist Ferdinand, ein junger Mann aus dem Kleinadel Österreichs, der sich gerade von einer schweren Kriegsverletzung erholt. Die 12 recht langen Kapitel bestehen hauptsächlich aus Dialogen von Ferdinand mit Verwandten und Freunden, meist unter vier Augen. Dramatische Handlung gibt's sehr wenig; das ist auch mein Haupt-Kritikpunkt an dem Buch. Als langatmig empfand ich es dennoch nie: Die Charakterzeichnung Bahrs ist brillant, und selbst bei den meisten Gegenwarts-Büchern hatte ich nie so oft das Gefühl, auf wohlbekannte Charaktere zu stoßen. Hat sich wirklich so wenig geändert in den letzten 100 Jahren?
Eine Hauptfigur des Buches tritt nie persönlich auf: Jason, einst Jakobsohn, ein jüdischer Kriegsgewinnler von sagenhaftem Reichtum. Als dieser plötzlich stirbt, erfährt Ferdinand, dass er dessen natürlicher Sohn und einziger Erbe ist.
Damit verrate ich nicht allzu viel, denn hauptsächlich geht es im Buch darum, wie Ferdinand mit dieser Neuigkeit umgeht, wie er sich zu entscheiden versucht, ob er das Erbe annehmen oder ablehnen soll. Zu seiner Überraschung rät ihm fast jeder dazu, es anzunehmen, und selbst die größten Antisemiten in seinem Freundeskreis wollen es ihm nicht zum Vorwurf machen, dass Ferdinand nun ein Jude sein könnte/ sollte.
Ich kann hier die Argumente nicht im Detail rekapitulieren; nur so viel: Was Bahr zum Thema Antisemitismus zu sagen hat, gehört mit zum Erhellendsten, was ich je zu dem Thema gelesen habe. Freilich, ganz ist er auch nicht von Vorurteilen frei; das zeigt sich v.a. an der Zeichnung des Dr. Beer, eines brillanten jüdischen Chirurgen. Nicht gerade ein sympathischer Charakter! Aber Schurken und Helden gibt es in diesem Buch ohnehin nicht; es geht auch nicht um dramatsische Auseinandersetzungen oder gar 'Action', sondern innere Konflikte und gesellschaftliche Strömungen. Wer sich für die Spätzeit des K.u.K.-Reiches interessiert, für den ist dieses Werk eine Pflichtlektüre. Hätte eine Neuauflage verdient!