Cover des Buches Henning flieht vor dem Vergessen (ISBN: 9783938295748)
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Rezension zu Henning flieht vor dem Vergessen von Hilda Röder

Aber ich lebe doch so gerne

von Igelmanu66 vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Hochemotional und sehr berührend. Ein schwieriges Thema wird hier umfassend und gut verständlich angegangen. Unbedingt empfehlenswert!

Rezension

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Igelmanu66vor 8 Jahren

»Der Garten war jetzt leer. Henning drückte seine Nase an die Fensterscheibe und suchte mit den Augen zwischen Büschen und Gartenzaun. „Nichts zu sehen – wo sind sie geblieben? Muss in die Küche gehen, schauen, ob das Essen fertig ist – die Kleinen werden einen Mordshunger haben“, murmelte er. Die Küchentür quietschte, als er sie öffnete. Luise stand an der Spüle und hob den Kopf. Auf dem Herd dampfte es aus einem großen Topf, es roch nach Bohnensuppe. „Wo bleiben die Kinder?“ Unruhig lief Henning zum Küchenfenster. Mit dem Handrücken rieb er ein Guckloch in die beschlagene Fensterscheibe und warf einen Blick in den Garten. „Irgendetwas stimmt hier nicht“, grübelte er, „nichts zu sehen!“ Luise trocknete ihre Hände an ihrer bunt geblümten Schürze ab. „Die Kinder? Wollten die heute kommen? Zum Essen?“ „Natürlich! Sie kommen doch immer um diese Zeit von der Schule!“ Er wurde zornig: „Ist das Essen fertig? Sie werden gleich hier sein und Hunger haben.“ … Luise erschrak heftig, ihre Stimme überschlug sich: „Aber Henning, nicht doch! Deine Kinder wohnen nicht hier, sie haben hier noch nie gewohnt – sind doch schon erwachsen!“ Zitternd setzte sie sich auf den Küchenstuhl. Ihre Knie waren plötzlich weich wie Pudding. Henning schaute sie verwirrt an. Eine Ahnung, gepaart mit einer Welle der Übelkeit, schoss in ihm hoch.«

Amsterdam, im Frühsommer 2009. Henning ist gerade erst 68 Jahre alt, ausgesprochen lebensfroh und agil. Die Diagnose "Alzheimer" trifft ihn wie ein Schlag! Viel zu präsent ist ihm immer noch die Leidensgeschichte seines Großvaters, die er als Junge miterlebte. Auf gleiche Weise seine Würde und die Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Leben zu verlieren, ist für ihn ein unerträglicher Gedanke. Er bittet seinen Hausarzt um eine begleitete Sterbehilfe und erfährt, dass diese, wenn sie von der niederländischen Euthanasie-Kontroll-Kommission genehmigt wird, schon sehr bald erfolgen muss - also lange vor dem Stadium, das er so fürchtet. Soll er unter diesen Umständen schon sein Leben beenden? Wo er doch so gerne lebt? Und wie soll er das bloß seinen Angehörigen, die ihn lieben und gerne umsorgen würden, mitteilen? Seiner Frau, den Kindern und Enkelkindern? Die folgenden Tagen und Wochen sind geprägt von Hennings Erinnerungen, Gefühlen und Ängsten. Wie wird er sich entscheiden?

»Er war sich seiner Würde noch nie so bewusst gewesen wie jetzt. Alles, was er mit diesem Begriff verband, lief Gefahr, verlorenzugehen.«

Ich habe lange überlegt, ob ich mir dieses Buch „antun“ soll. Jetzt bin ich froh, dass ich es getan habe.

Im Vorwort schreibt die Autorin, „dass in ihrem Buch keine Position für oder gegen Tötung auf Verlangen bezogen wird. Nein, im Gegenteil, der Leser soll sich seine eigene Meinung bilden.“

Das gelingt definitiv!

Das Thema wird so umfassend behandelt, von so vielen Seiten beleuchtet, unter so vielen Gesichtspunkten betrachtet, dass jeder Leser sich selbst irgendwo wiederfindet. Gut möglich ist auch, dass er sich nach und/oder während der Lektüre hin- und hergerissen fühlt, in seinen Ansichten schwankt oder sich einfach nicht vorstellen kann, wie er sich im Falle des Falles entscheiden würde. Auch dies ein Standpunkt, der sich im Buch wiederfindet, der völlig normal ist und erneut verdeutlicht, wie schwierig dieses Thema ist und dass man sich als Außenstehender nicht leichtfertig anmaßen sollte, über die Entscheidung eines anderen Menschen zu urteilen.

Sowohl Henning als auch seinen Familienangehörigen habe ich mich zu jeder Zeit nah gefühlt. Obwohl der Schwerpunkt auf Hennings Empfindungen liegt, wird auch klar beschrieben, wie seine engsten Angehörigen mit der Situation umgehen, wie sie damit klar kommen. Da gibt es völlig unterschiedliche Ansichten und jeder muss seinen ganz persönlichen Weg finden, damit weiterzuleben. Henning selbst wird von der anstehenden Entscheidung förmlich zerrissen...

»Weißt du, ich mache die ganze Familie unglücklich! Fange mehr und mehr an zu zweifeln, ob ich das Richtige tue.«

Es wird auch nicht nur Hennings Sichtweise dargestellt. Durch seine Erinnerungen erfahren wir vieles über andere wichtige Menschen in seinem Leben, die ebenfalls durch eine schwere Zeit der Krankheit und der Schmerzen gegangen sind. So werden auch Alternativwege aufgezeigt, sowohl was die Betreuung zuhause als auch in Pflegeeinrichtungen angeht. Jeder mag für sich entscheiden, welcher Weg für ihn persönlich der richtige ist. Und natürlich ist es auch in Ordnung, einen einmal eingeschlagenen Weg zu verlassen, um sich noch einmal neu zu orientieren.

Es gibt eben keine Standardlösung, keine allgemeingültige Antwort.

Nebenbei erfährt man natürlich viel über das Thema Alzheimer, über die Symptome und den Verlauf der Krankheit. Wer sich noch nie damit befasst hat, glaubt womöglich, dass Alzheimer bedeutet, "ein bisschen vergesslich" zu sein und könnte Hennings Problematik gar nicht richtig nachvollziehen. Und wer sich schon gut auskennt, erfährt vielleicht den ein oder anderen Denkanstoß, lernt vielleicht eine andere Sichtweise kennen.

Trotz des sehr komplexen Themas ist alles sehr leicht und in einfachen Worten geschrieben. Der Stil und das große, gut lesbare Schriftbild, ermöglichen eine mühelose Lektüre. Die traurige Thematik wird durch viele – auch sehr schöne und lustige – Erinnerungen durchbrochen. Ob sie nun ein Symptom der Erkrankung sind oder ob Henning sich bewusst erinnern will, sei dahingestellt. Aber diese vielen und intensiven Erinnerungen an all die schönen und schlimmen Momente, an all das, was wichtig war im Leben, helfen ihm bei seiner Entscheidung und ermöglichen dem Leser, Henning auf seinem Weg zu begleiten.

Im Anhang findet sich ein Auszug aus dem Niederländischen Euthanasie-Gesetz, in dem die Sorgfaltskriterien beschrieben werden, nach denen sich der behandelnde Arzt richten muss. Außerdem gibt es eine (nicht vollständige) Auflistung von Alzheimer-Gesellschaften und Anlaufstellen, mit namentlich genannten Ansprechpartnern und Telefonnummern.

Fazit: Hochemotional und sehr berührend. Ein schwieriges Thema wird hier umfassend und gut verständlich angegangen. Dieses Buch kann helfen, gegenseitiges Verständnis für die unterschiedlichsten Ansichten zu fördern. Da sehr viele Menschen im Laufe ihres Lebens entweder direkt, als Angehöriger, Freund, Nachbar oder sonstiger nahe stehender Mensch mit dem Thema Alzheimer und vielleicht sogar mit dem Thema Sterbehilfe konfrontiert werden, sage ich: Unbedingt empfehlenswert!

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