Cover des Buches Die Tochter des Gerbers (ISBN: 9783442375165)
Rezension zu Die Tochter des Gerbers von Hilke Müller

Rezension zu "Die Tochter des Gerbers" von Hilke Müller

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 13 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 13 Jahren
Arlette, die Tochter eines Gerbers, ist 16, als sie von dem Ritter Gilbert de Brionne vergewaltigt wird. Das Mädchen will die furchtbare Tat nicht einfach hinnehmen und findet den Mut, den Ritter vor dem Herzog der Normandie anzuklagen. Der jedoch weist die Anklage zurück und auch bei kirchlichen Würdenträgern findet Arlette keine Unterstützung. Zu allem Unglück bleibt die Tat nicht ohne Folgen, denn Arlette trägt ein Kind. Der Weg in eine standesgemäße Hochzeit ist ihr damit verwehrt. Als Ritter Gilbert de Brionne ihr den Sohn streitig macht, zieht Arlette erneut vor den Hof um Anklage zu erheben. Dort herrscht nun mit Robert I. ein neuer Herrscher, dessen Aufmerksamkeit sie erlangt. Statt ihr zu ihrem Recht zu verhelfen, macht er sie zu seiner Geliebten. Viele Jahre wird diese Friedelehe andauern, in deren Verlauf Arlette weitere Kinder gebiert, weit aufsteigt und tief fällt. Hilke Müller erzählt über einen Zeitraum von knapp 20 Jahren die Geschichte Herlevas/Arlettes, der Mutter des als Wilhelm der Eroberer in die Geschichte eingegangene Königs von England. Wenig ist bekannt über diese Frau, die in der Gunst Roberts I. weit nach oben stieg und über lange Jahre seine Geliebte war. Vermutlich aus politischen Gründen musste Arlette später eine Ehe mit dem Ritter Herluin eingehen, mit dem sie weitere Kinder bekam. Es ist ein farbenprächtiges Bild, das Hilke Müller zeichnet, das Bild einer unruhigen Zeit, die geprägt war von Machtkämpfen und Thronstreitigkeiten, die oft damit endeten, das unliebsame Mitbewerber aus dem Weg geräumt wurden. Inmitten dieser bewegten Zeit steigt Arlette zur Geliebten auf, die dem Herzog zwar Kinder schenkt, aufgrund des Status der Geliebten am Hof aber den Ruf der Hure nie loswird. Ihr Einfluss auf Robert I., ein Herrscher, der sich durch Versprechungen aber weniger durch Taten auszeichnet, ist groß und nicht Wenigen ein Dorn im Auge. Um die unliebsame Frau loszuwerden wird der Herzog dazu überredet, sie mit einem Ritter zu verheiraten, dem sie auf sein Gut folgen muss. Doch es dauert nicht lange und die Wege von Arlette und Robert kreuzen sich erneut. Es klingt wie eine große Liebesgeschichte, aber Hilke Müller zeichnet hier auf 600 Seiten das Bild einer Frau, die aus einfachen Verhältnissen kommt, große Ungerechtigkeit erfährt und darüber die Fähigkeit einbüßt, wirklich zu lieben. Ihr Herz hängt an ihren Kindern, die Männer in ihrem Leben benutzt sie für ihre Zwecke. Sie manipuliert und steuert, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen kann, entfacht sich in ihrem Inneren unglaublich Wut. Echte Liebe kann sie nur von ihren Kindern annehmen und als sie endlich begreift, was für ein Mensch aus ihr geworden ist, ist es fast zu spät, um die Dinge noch zum Guten zu wenden. Ich finde es unglaublich mutig von der Autorin, die Hauptperson des Buches so negativ zu besetzen. Hier bekommt man definitiv keine weichgespülte Heldin in Hosen, keine bequemen Protagonisten in einer netten Geschichte sondern erlebt diese unruhige Zeit genauso knallhart, wie sie gewesen sein dürfte. Arlette führt einen Kampf um Anerkennung und ums tägliche Überleben. Gerade diese unbequeme Figur sorgt aber dafür, dass Hilke Müllers Geschichte und deren Hintergründe beim Lesen nicht einfach als Kulisse an einem vorbeizieht, sondern bis ins Detail bewusst wahrgenommen wird. Ich kann mich nicht erinnern, wann mir eine Protagonistin beim Lesen je so viel abverlangt hat wie Arlette, denn über fast die gesamten 600 Seiten dieses Buches möchte man sie am Liebsten permanent schütteln oder anschreien. Sie ist arrogant, trotzig und herrschsüchtig, vergisst, wo ihre Wurzeln liegen, ist mit nichts zufrieden. Arlettes Erkenntnis, Fehler gemacht zu haben und der Wunsch sich zu ändern, kommen langsam und spät. Fast zu spät. Ich hätte diesen Lernprozess gerne etwas ausführlicher gehabt, denn er setzt im Buch leider erst ziemlich zum Schluss ein. Gerne hätte ich gewusst, wie es mit Ihr und dem ihr anverheirateten Herluin weitergegangen ist, denn die Geschichte endet doch ziemlich abrupt. Auch die Nebenfiguren seien hier erwähnt, denn blass oder oberflächlich bleibt keine von ihnen. Besonders haben es mir hier der junge Wilhelm und der Ritter Jean le Paien angetan. Hilke Müller fordert den Leser mit Figuren, die eigentlich nie so handeln, wie man es erwartet, belohnt aber im Gegenzug mit einer reichhaltigen, lebendigen und üppigen Geschichte ohne klassische Liebesgeschichte dafür aber mit sachlich fundiertem historischen Hintergrund. Von dieser Autorin möchte ich definitiv mehr lesen und hoffe, dass sie auch im nächsten Buch wieder mit ungewöhnlichen Protagonisten überraschen kann.
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