Rezension zu "Klagenfurter Texte. Die Besten 2015" von Hubert Winkels
Klagenfurter Texte. Die Besten 2015: Die 39. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt - Hubert Winkels (Herausgeber) – 208 Seiten, Verlag: Piper (5. Oktober 2015), 14,99 €,
Was soll Literatur? Valerie Frisch meinte in einem Interview „die Welt übersetzen, mit Buchstaben codieren und bewohnbarer machen.“ Literatur scheint mit die Gesamtheit aller Sprachkunstwerke zu sein, die besonderen ästhetischen Kriterien genügen. Und davon gibt es eine Menge in den »Klagenfurter Texten. Die Besten 2015«. Lesen Sie die spannendsten Stimmen unserer Zeit in diesem ganz besonderen Lesebuch.
Die Texte
Nora Gomringer – Recherche (Ingeborg-Bachmann-Preis)
"Recherche" handelt vom Tod eines 13-jährigen Jungen. Als Protagonistin wählt sie "Nora Bossong, die Lyrikerin und Romanautorin. An ihr arbeitet sie ihre Idee ab, eine Schriftstellerin, auf der Suche nach einem neuen Text zu zeigen, den sie ausarbeiten möchte." Der tragische Fall eines Jugendlichen, der aus dem 5. Stock stürzte, ist der Protagonisten aufgefallen. Sie beginnt zu recherchieren. Was sie dort erfährt, bildet sich in Stimmen und Stimmungen in ihr ab und das nimmt sie dann in eine Textproduktion hinein, die sich letztendlich auch gegen sie wendet. Im Text klingt die Frage mit an, ob sich eine Autorin überhaupt derart an der Realität bedienen darf. Nora Gomringer verfasst einen raffiniert abgründigen Text
Valerie Fritsch – Das Bein (Kelag- und Publikums-Preis)
Sprach- und bildmächtig - Ihr Text über den Phantomschmerz einer Beinamputation ist in einem sehr poetischen Stil gehalten. Sehr überzeugend dieses Kammerspiel mit heimkehrendem Sohn und beinamputiertem Vater, das immer tiefer in die Innen- und Gefühlswelt der beiden Figuren führte. Der Text nimmt die Jahreszeiten als Vehikel, um diese Geschichte zu erzählen. Der Sohn verbringt den Sommer und den Herbst bei seinem Vater. Im Winter stirbt der Vater. Ein Text des Memento mori. Sprachlich ambitioniert, hautnah und mit einer gleichwohl unaufdringlich diskreten Beschreibungsgenauigkeit, insgesamt ein emphatischen und gleichwohl ganz in sich gekehrter Text. Eine hochkonzentrierte, gut gebaute Erzählung
Dana Grigorcea – Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit (3sat-Preis)
Auszug aus einem kommenden Roman. Hier kommt alles zusammen, was gute Literatur ausmacht: Witz, Komik, Tragödie, Poesie, Melancholie, Trauer, Elend, Liebe. Ein hinreißendes Rumänien-Porträt, episch mit melancholischem Humor. Hier überzeugte mich vor allem die lustvoll überschäumende Erzählkunst, Wunderbar bewegende, ebenso komische wie traurige, bisweilen absurde Episoden.
Anna Baar – Die Farbe des Granatapfels
Ein Text über die Beziehung, eines sich in der Adoleszenz befindlichen Mädchens, zu Ihrer Großmutter. Eine große Geschichte von Liebe und Versöhnung, Krieg und Frieden, Ausgrenzung, Vereinnahmung und Entfremdung im Heranwachsen zwischen den Kulturen. Geschrieben in einer unerbittlichen und metaphernreichen Sprache. Das ist Zukunftsliteratur
Jürg Halter – Erwachen im 21. Jahrhundert
Ein Mitteleuropäer ist nach einem Albtraum zurück im 21. Jahrhundert. In diesem Text verarbeitet nun dieser Mensch diesen Albtraum, mithilfe der Angst. Er beschreibt die Handlungen und Gedanken eines Menschen zwischen 5 Uhr 20 und 7 Uhr 55. Sehr tiefgründig und clever, metaphysisch, aber gut zugänglich. Ein zivilisationskritischer Monolog eines gerade aus einem Albtraum erwachten Schriftstellers.
Teresa Präauer – Oh, Schimmi!
Ein Mann macht sich wortwörtlich zum Affen. Ein perfekter Text – originell, verspielt, witzig und ganz schön ausgebufft. Er spielt auf vielen sprachlichen Ebenen, hat Rhythmus. Hier wird mit allen sprachlichen Mitteln gearbeitet. Ein Text mit enormer Komik, Musikalität und bitterbösem Hyperrealismus, in dem sie die Evolutionsgeschichte rückwärts buchstabiert und den gewalttätigen Mann in einen Affen zurückverwandelt. Für mich der beste und auch witzigste Text.
Ronja von Rönne – Welt am Sonntag
Ein junger Mensch wacht auf, und fühlt sich nicht gut. Der Mensch befindet sich in Karlsruhe, in einem Hotel. Im Laufe des Tages regt sich dieser Mensch über Kleinigkeiten auf. Nur um am Ende des Tages zu festzustellen, dass eigentlich doch alles ganz gut ist. Die Welt kann vieles sein an einem Sonntag. Es ist ein Text voller Posen, manche davon sind nervig kokett. Er ist auf Provokation hin kalkuliert, und diese Seite macht ihn schwach, weil er zu sehr auf Effekt getrimmt ist, zu journalistisch, zu generationsverhaftet.
Monique Schwitter – Esche
Liebe in allen Variationen, eine doppelte Spiegelung von Schein und Sein. Wie in einer Art barocken Reigen und mit fabelhaftem Humor spielt Schwitter durch, wie sich über die Generationen hinweg die verschiedenen Paarkonstellationen zusammenfügen, trennen, neu zusammenfügen, mit der unausgesprochenen Hoffnung, dass es womöglich irgendwann etwas wie diese endgültige Harmonie – unter der Esche dann – geben könnte.
Die Urteile
Die Tage der deutschsprachigen Literatur, wie das Bachmannpreis-Lesen offiziell heißt, sind jedes Jahr auch die Tage der deutschsprachigen Literaturkritik. Und die ist hier gut in Form. Die siebenköpfige Jury dreht und wendet die Texte, analysiert Erzählstrukturen und Erzählperspektiven, durchleuchtet Inhalte und deren Bedeutungsebenen.
Nach jedem Text folgen einige Seiten aus der Jury-Diskussion. Sehr aufschlussreich. Außerordentlich beflügelnd, die eigenen Eindrücke vom Text und die eigenen Schlussfolgerungen mit denen der Jury zu vergleichen.
Für anspruchsvolle Leser, die an wirklicher Literatur interessiert sind. Sehr empfehlenswert.
Hier geht es direkt zum Buch auf der Seite des Piper Verlages
http://www.piper.de/buecher/klagenfurter-texte-die-besten-2015-isbn-978-3-492-05715-8
Fragen Sie in Ihrer örtlichen Buchhandlung nach diesem Buch. Wenn Sie in meiner Gegend „Landkreis Merzig-Wadern“ leben, dann wenden Sie sich an die Rote Zora: http://www.rotezora.de