Rezension zu "Roller-Coaster: Europe, 1950-2017" von Ian Kershaw
Nach dem "Höllensturz" die "Achterbahnfahrt". Im zweiten Teil seiner Geschichte Europas im 20. Jahrhundert schlägt Ian Kershaw einen Bogen vom Beginn des Kalten Krieges bis zur unmittelbaren Gegenwart. Die ereignisreichen Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg haben den Europäern vieles beschert, Frieden und Wohlstand, aber auch Nöte und Tragödien, Krisen und Herausforderungen. Kershaw hat sich entschlossen, den Band nicht mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in der Sowjetunion und in Osteuropa enden zu lassen. Der Optimismus, der zu Beginn der 1990er Jahre in Europa herrschte, ist längst verflogen. Eine Zusammenballung von Krisen hält den Kontinent seit einigen Jahren in Unruhe und Spannung (Finanzkrise; Terrorismus; Migration; Ukrainekonflikt; Brexit). Die Europäer sind verunsichert und schauen mit Sorge in die Zukunft. Ganz ähnlich war es um 1950, als die Rivalität zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion ihren ersten Höhepunkt erreichte. Die Europäer lebten in Furcht vor einem neuen Weltkrieg, wenn nicht gar einem Atomkrieg. Der Kontinent war in zwei feindliche Blöcke gespalten. Diese Spaltung prägt Kershaws Darstellung über weite Strecken. Der Westen und der Osten entwickelten sich vierzig Jahre lang auf unterschiedliche Weise. Ihre Geschichte lässt sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Deshalb schildert Kershaw die Entwicklungen in West und Ost in separaten Kapiteln. Die Staaten, die zu den beiden Blöcken zählten, wiesen allerdings nicht nur Gemeinsamkeiten auf, sondern auch Unterschiede. Einmal mehr erweist sich Kershaw als Meister der vergleichenden Untersuchung. Er arbeitet allgemeine Entwicklungen heraus, die den Kontinent seit 1950 geprägt haben, nimmt aber stets auch nationale Besonderheiten in den Blick. Erhellend und ertragreich ist dieser vergleichende und differenzierende Blick vor allem in den Kapiteln über die Ostblockstaaten, die keineswegs eine monolithische Einheit bildeten. Wie schon im ersten Band verknüpft Kershaw die politische Geschichte mit der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte. Erneut ist ihm eine sehr gute Balance von Faktenvermittlung und Analyse gelungen. Sein Blick ist nüchtern, abgeklärt, reflektiert. Kershaw konzentriert sich streng auf das Wesentliche. Nirgendwo belastet Nebensächliches und Überflüssiges den straff durchkomponierten Text. Bei einem weniger disziplinierten Autor hätte das Buch deutlich umfangreicher und langatmiger ausfallen können, zum Verdruss des Lesers.
Mehrere Leitmotive prägen Kershaws Darstellung der europäischen Geschichte bis 1989/1991. Der Westen erholte sich erstaunlich rasch von den Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Zu Beginn der 1950er Jahre setzte ein Wirtschaftsboom ein, der gut 20 Jahre dauerte. Die Gesellschaften Westeuropas genossen einen nie zuvor gekannten materiellen Wohlstand und eine politische Stabilität, die 1945 wohl niemand vorherzusagen gewagt hätte. Mitte der 1970er Jahre machte die Demokratie weitere Geländegewinne: Die glücklose Militärjunta in Griechenland gab die Macht ab; die altersschwachen Diktaturen in Portugal und Spanien brachen wie Kartenhäuser zusammen. Die ersten Etappen der europäischen Integration vollzogen sich. Sozialstaatliche Absicherung, kulturelle Liberalisierung und ungehemmte Konsumfreude prägten das Alltagsleben der Menschen im Westen. Die Ölkrise von 1973 und die von ihr ausgelösten wirtschaftlichen Turbulenzen erschütterten den naiven Glauben der Westeuropäer an unbegrenztes Wachstum. Auch im Osten stellte sich im Laufe der Zeit ein bescheidener Wohlstand ein. Die chaotischen politischen Zustände der Zwischenkriegszeit gehörten der Vergangenheit an. Doch das Herrschafts- und Wirtschaftssystem, das Stalin hinterlassen hatte, lastete bleiern auf der Sowjetunion und den Ostblockstaaten. Die Reformen, die Chruschtschow und andere Parteiführer vornahmen, waren halbherzig und ließen das System im Kern unverändert. Mehrfach kam es zu Konflikten zwischen der Sowjetunion und den Satellitenstaaten (Ungarn-Aufstand 1956, Prager Frühling 1968). Mit Mühe und Not überstand der Osten die schwierigen 70er Jahre, und in den 80er Jahren war nicht zu übersehen, dass die kommunistischen Staaten in einer Sackgasse steckten. Der Kommunismus war erstarrt, verkrustet, nicht reformierbar. Ihm fehlte die Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit des westlichen Gesellschaftssystems mit seiner Kombination von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft. Kershaw blickt keineswegs unkritisch auf den Westen. Aber er verweist immer wieder darauf, wie die westlichen Staaten politische und wirtschaftliche Krisen erfolgreich meisterten, sei es im nationalstaatlichen Rahmen, sei es durch Kooperation auf europäischer Ebene. Die Achterbahnfahrt mündete nie in eine Katastrophe. Verhandeln und zusammenarbeiten, das Streben nach Konsens und die Suche nach einem Interessenausgleich – das sind Kershaw zufolge die Stärken, die die Europäische Gemeinschaft in den Jahrzehnten vor dem Epochenumbruch von 1989/91 entwickelt hat. Diese Tugenden sind heute stärker gefragt als je zuvor. Die 1990er Jahre mit dem Jugoslawienkrieg und den harten Zeiten des Übergangs in Russland und in Osteuropa sieht Kershaw als Vorspiel zur neuen "Ära der Unsicherheit", die mit dem 9. September 2001 begonnen hat. Heute ist Europa zwar nicht mehr in feindliche Blöcke gespalten, aber es steht vor Herausforderungen, die nicht weniger schwierig sind als zu Zeiten des Kalten Krieges.
Die unmittelbare Gegenwart steht im Mittelpunkt der beiden letzten Kapitel. Kershaw wendet sich den großen Themen unserer Zeit zu: Die Licht- und Schattenseiten, die Chancen und Risiken der Globalisierung; die Folgen der EU-Osterweiterung; die Migrationskrise; neuartige kulturelle und politische Spannungen innerhalb der europäischen Gesellschaften, die vor 25 Jahren nicht abzusehen waren. Wie werden die einzelnen europäischen Staaten, wie wird die Europäische Union als Ganzes all die Probleme lösen, mit denen Europa gegenwärtig konfrontiert ist? Werden Europa und Russland wieder zu einem erträglichen Verhältnis finden? Wie geht es mit der europäischen Integration weiter; lässt sich ein neuer Enthusiasmus für das europäische Projekt wecken? Kershaw bezweifelt, dass sich die EU in naher Zukunft substantiell verändern und weiterentwickeln wird. Seiner Ansicht nach fehlt es an einem Akteur, der solche Veränderungen anstoßen und vorantreiben könnte. Der Nationalstaat ist lebendiger denn je; eine Europäische Föderation, Vereinigte Staaten von Europa wird es so bald nicht geben. Allenfalls eine bessere Koordination der Außen- und Verteidigungspolitik hält Kershaw für machbar. Er bedauert, dass der jahrzehntelange Prozess der europäischen Integration nicht zur Entstehung einer europäischen Identität geführt hat. Kershaw verklärt die Europäische Union nicht, aber er würdigt mit Nachdruck ihre unbestreitbaren Erfolge und Leistungen. Dabei hat er stets die Katastrophen im Blick, die den Kontinent zwischen 1914 und 1945 heimsuchten. Vor diesem Hintergrund muss die Europäische Union beurteilt werden. Europa ist heute ein Kontinent der Demokratien, der Zivilgesellschaften, des Verhandelns und Kooperierens. Es ist ein pazifistischer Kontinent. Die Europäer haben den unheilvollen Militarismus früherer Zeiten konsequent hinter sich gelassen. Das ist, folgt man Kershaw, eine der wichtigsten Errungenschaften, die sich Europa seit 1945 erarbeitet hat. Was wird die Zukunft bringen? Kershaw rät den Europäern: "In gefährlichem Gewässer sollten die Schiffe eines Konvois besser zusammenbleiben anstatt auseinander zu driften". Die Achterbahnfahrt geht weiter; dafür müssen die Europäer gerüstet sein. Sie sind gut beraten, jene Strategien, die in der Vergangenheit erfolgreich waren, beizubehalten und künftigen Erfordernissen anzupassen. Ian Kershaw spricht den Europäern Mut zu, indem er ihnen zeigt, was sie in den letzten 70 Jahren und besonders im letzten Vierteljahrhundert vollbracht und geleistet haben. Ja, die EU ist schwerfällig, aber gibt es eine ernst zu nehmende Alternative zur Verflechtung und Zusammenarbeit auf europäischer Ebene? Der Weg, den Europa seit 1945 zurückgelegt hat, war mühevoll und nicht frei von Irrungen, Misserfolgen und Fehlschlägen. Aber er hat zu einem zivilisatorischen Fortschritt geführt, den es selbstbewusst zu verteidigen gilt. Das ist die Einsicht, die man als Leser aus Ian Kershaws Buch gewinnt.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Oktober 2018 bei Amazon gepostet)