Fünf Essays enthält dieser Band, entstanden sind sie zwischen 2003 und 2019. Mit „Literatur, Wissenschaft und die menschliche Natur“ ist der erste überschrieben, der sich unter anderem mit Charles Darwin auseinandersetzt und folgert, dass „die Art und Weise, wie Phantasie und Einfallsreichtum in der Literatur zum Ausdruck kommen, Darwins Ansichten untermauern. Es wäre unmöglich, Literatur aus uns fernen Zeiten oder aus einer grundsätzlich anderen Kultur zu lesen, teilten wir mit dem Schriftsteller nicht ein gemeinsames emotionales Terrain, ein grosses Reservoir von Annahmen.“ Recht ausführlich zitiert McEwan aus Donald Browns „Human Universals“ und ich staune, was wir Menschen alles gemeinsam haben, vom Geschenkeaustausch bis zu einem Begriff von Gerechtigkeit, von bestimmten Kindheitsängsten bis zum Wissen darum, dass auch andere Menschen ein Innenleben haben.
“The Originality of the Species oder: Wer ist der Erste?“ (die neumodische Eigenart, in Buch- und Aufsatztiteln Englisch und Deutsch zu mischen, finde ich prätentiös-peinlich) ist ein überaus spannender und aufschlussreicher Text, der einerseits zeigt, was Ehrgeiz alles bewirken kann (Darwins Thesen standen konträr zu den Auffassungen der viktorianischen Gesellschaft ) und andererseits deutlich macht, dass der „Kult der Persönlichkeit, der um Künstler betrieben wird“ gelegentlich fast schon religiöse Züge annimmt. Das ist umso bemerkenswerter als Shakespeare, Bach, Mozart und Beethoven zu ihrer Zeit nicht übermässig verehrt wurden.
Ganz besonders angesprochen haben mich McEwan Einlassungen zu Erkenntnis und Intuition, die sich nicht nur oft nicht entsprechen, sondern gelegentlich gänzlich unvereinbare Position einnehmen. Ein Beispiel: „Die der Intuition zuwiderlaufende Vorstellung, die Erde drehe sich um die Sonne, brauchte Generationen, um sich in Europa durchzusetzen.“ Obwohl wir das mittlerweile wissen, leben wir nach wie vor in der Vorstellung, wir seien das Zentrum des Universums. Wir wären gut beraten, unserer Intuition nicht einfach zu trauen, sondern ab und zu unseren Verstand zum Zuge kommen zu lassen.
„Ein parallele Tradition“ lautet der Titel des dritten Essays, den ich vor allem als Anregung auf Texte und Bücher lese, die einem die Wissenschaft nahebringen. „Wer wissen will, was für kühne und originelle Ideen Newton hatte, der lese Voltaire. Bei ihm spüren wir die Begeisterung für neue Ideen, und dabei erfüllt er zugleich die höchsten Anforderungen an Verständlichkeit.“ Mc Ewans Begeisterung für Lucrez‘ „De rerum natura“ und Steven Pinkers „Der Sprachinstinkt“ teile ich. Danke also fürs Erinnern!
Auf Lucrez kommt er auch im folgenden Essay „Das Ich“ zu sprechen, das in vielen Berichten ohne Körper auszukommen scheint. „Dass das Ich eine Art Narrativ sei, eine sich entfaltende Geschichte, die wir uns selbst erzählen, gilt heutzutage als allgemein anerkannt.“ Das setzt allerdings einen freien Willen voraus, von dem Ian McEwan nicht so recht überzeugt ist. Er zitiert den Philosoph Galen Strawson, der „das eigene Ich keineswegs als selbstverfasste Geschichte, sondern als eher episodenhaft, leicht chaotisch, geprägt von einzelnen Momenten, in einer sukzessiven Abfolge von Gegenwarten“ beschreibt.
„Endzeitstimmung“ beschliesst diesen Band. Kann man ein Buch mit einem besseren Titel abschliessen? Apokalptische Überzeugungen ziehen sich durch die Geschichte, der säkulare Verstand hat dem bisher wenig entgegensetzen können, im Gegenteil: „Statt das apokalyptische Denken in Frage zu stellen, hat die Naturwissenschaft es ganz offenkundig gestärkt. Sie hat uns die Möglichkeit an die Hand gegeben, uns und unsere Zivilisation in weniger als zwei Stunden zu vernichten oder in ein paar Tagen einen tödlichen Virus auf der ganzen Erde zu verbreiten.“
Übrigens: Wussten Sie, dass nur gerade zwölf Prozent der Nordamerikaner „glauben, dass Leben auf der Erde habe sich durch natürliche Selektion ohne Intervention einer übernatürlichen Instanz entwickelt“? Doch bevor sie sich – Diese Amis, es ist wirklich nicht zu fassen! – an den Kopf greifen, lesen Sie, was Ian McEwan zu solchen Umfragen schreibt. Auf Seite 147 oben. Es lohnt sich!