Cover des Buches Nussschale (ISBN: 9783257244151)
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Rezension zu Nussschale von Ian McEwan

HUMORVOLL. GEISTREICH. ABWECHSLUNGSREICH.

von Ricchizzi vor 6 Jahren

Kurzmeinung: HUMORVOLL. GEISTREICH. ABWECHSLUNGSREICH.

Rezension

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Ricchizzivor 6 Jahren

HUMORVOLL. GEISTREICH. ABWECHSLUNGSREICH.

So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau. Ich warte, die Arme geduldig gekreuzt, warte und frage mich, in wem ich bin und worauf ich mich eingelassen habe. So beginnt Nussschale und lässt den Leser bereits nach dem ersten Satz mit einem Schmunzeln und einer nicht zu bändigenden Neugier in den Roman starten. Was für ein genialer Auftakt! Und die Genialität dauerte an, von der ersten Zeile bis zur letzten Seite.

Wörter, beginne ich zu begreifen, können Dinge wahr werden lassen.
Nussschale | Ian McEwan | Seite 88

Der Ton im Roman kann nicht anders als humorvoll und trotzend vor Sarkasmus beschrieben werden. Unser Protagonist, der Ungeborene im Mutterleib, erzählt mit einer Begeisterung zur Sprache, Kultur und Wissen über die Menschheit, über sein Leben und alles, was er um sich herum wahrnimmt, kennenlernt und befürchtet. Dabei verstrickt sich der Erzähler oft in Gedankenspielerei, driftet stets von der Gegenwart ab und verrennt sich in Gesellschaftskritik, jedoch mit einer geballten Ladung Humor, einem Charme, dem man kaum widerstehen kann und einer Intelligenz, die den Spaß am Lesen erst in den Vordergrund rückt.

War es ich? Zu selbstverliebt. War es jetzt? Zu dramatisch. Dann etwas, das beidem vorausgeht und beides enthält, ein einzelnes Wort, Ausdruck eines stillen Seufzers, eines Schwindelgefühls der Hinnahme, des eigenen Seins, etwas wie – dies? Zu gewählt. Meine Idee, ganz nahe dran, hieß sein. Und wenn nicht sein, dann die grammatische Variante ist. Das war mein Urbegriff, der springende Punkt – ist. Nur das. Im Geiste von: Es muss sein.
Nussschale | Ian McEwan | Seite 8

Im Zentrum des Geschehen spielt sich die Dramatik um seine Mutter, dem Vater und dem Geliebten ab. Eine Verschwörung steht im Raum, es wird gemunkelt, geflüstert und geplant und mittendrin der ungeborene Fötus, der alles mit anhört, eigene Theorien spindelt und sich fragt, wieso er gerade in diese Misere geraten musste. Immer wieder erfahren wir mehr über die Umstände, in denen sich der Protagonist so ganz ohne eigenes Handeln befindet, aus denen er nicht fürchtet entkommen zu können und wie er plant das ganze noch zu seinem Vorteil oder wenigstens nicht zu seinem Nachteil ausspielen zu können. Natürlich kann der Embryo gar nicht handeln, er liegt nur da und denkt und nimmt Dinge wahr, doch er hofft stets mit seiner Existenz den Wandel bewirken zu können. Einem Ungeborenen so ein Bewusstsein zu verleihen, überhaupt die Idee dahinter, begeisterte mich über den gesamten Roman hinweg. Natürlich wirkt es skurril, doch wie könnte es das nicht?

Der Beginn des bewussten Lebens war das Ende der Illusion – der Illusion des Nichtseins – und zugleich Eruption des Realen.
Nussschale | Ian McEwan | Seite 11

Seine Hilflosigkeit durch seine Ungeborenheit stehen dabei im Fokus. Immer wieder driftet der Erzähler dadurch in dramatischen Fragen über das Leben, das eigene Sein und dem Sinn des Lebens ab, jedoch mit Witz und einem Wahrheitsgehalt, der einen als Leser wissbegierig und nachdenklich zugleich stimmen lässt.

Ich weiß, dass Alkohol meiner Intelligenz schadet. Er schadet jedermanns Intelligenz. Aber ach, ein wonniger, die Wangen rötender Pinot Noir, ein stachelbeeriger Sauvignon lassen mich durchs inwendige Meer taumeln und purzeln, bis ich gegen die WÄnde meines Schlosses kugle, dieser Springburg, in der ich hause.
Nussschale | Ian McEwan | Seite 17

Der Schreibstil ist bemerkenswert akribisch und erstaunlich flüssig. Erstaunlich deshalb, da Bandwurmsätze in diesem Roman ein neues Ausmaß annehmen, allerdings so, dass es tatsächlich ungemein viel Spaß macht, sich ihnen zu stellen. Oft erstrecken sich Gedankengänge über eine halbe Seite. Doch es wurde so gekonnt niedergeschrieben, dass diese Satzkombinationen einen als Leser um den Finger wickeln und nur begeistern können. Die Sprache wird hier vollumfänglich ausgenutzt. Der Wortschatz und die Einbindung in die gegenwärtigen wichtigen Themen, wie Terroranschlägen, Welthunger und Konflikte zwischen Russland, den USA und Nordkorea werden hervorragend in die Nebenhandlung mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit eingebunden, ohne, dass es gestelzt, inszeniert oder zu gewollt wirkt.

Wir sind pappsatt vor lauter Privilegien und Köstlichkeiten, und doch jammern wir, und wer noch nicht jammert, fängt bald damit an.
Nussschale | Ian McEwan | Seite 47

Der Roman wird in einem so alltäglichen Rahmen wiedergegeben, dass mich der Part des Normalen wohl am meisten faszinierte. McEwan berücksichtigte dabei jegliche Geräusche, Formen der Bewegung und Umgebungssituationen, die der Embryo zu spüren bekommen kann. Die Perspektive wirkt wahrhaftig. Tatsächlich wird die Handlung so um den Embryo gewoben, dass wir nur immer mal wieder Gesprächsfetzen und zu deutende Handlungen mitbekommen. Der Spielraum wird durch den Protagonisten ausgeschmückt und mit eigenen Vorstellungen der Realität ausgeführt.

Keine Wahrheit schränkt das Leben so sehr ein wie die folgende: Es ist immer jetzt, immer hier, nie dann und da.
Seite 56

Die eigentliche Thematik erfahren wir nur in kleinen Häppchen, nur in Situationen, wenn tatsächlich richtige Gespräche stattfinden; denn in die Gedanken von den anderen Mitmenschen treten wir nicht ein. Wir erfahren lediglich nur das, was auch der Embryo mitbekommt, wodurch im Roman ein unglaublicher Spannungsbogen aufgebaut wird. Ian McEwan hat die Perspektive des Embyos zu seinem Erzählvorteil genutzt. Durch diese Grenzen, die dem Leser aus diesem Blinkwinkel aufgeboten werden, ergeben sich ganz andere Möglichkeiten eine Geschichte zu Papier zu bringen. Es ist anders und für den Leser ein richtiges Erlebnis. Hier wird eine Darstellung geboten, die für den Leser einen ganz neuen Reiz auslöst und die gesamte Aufmerksamkeit fordert, jedoch auf eine unterhaltsame Art.

Dass die Kannibalen vermieden, Idioten zu essen, hatte schon einen Grund.
Nussschale | Ian McEwan | Seite 163

Der schlussendliche Verlauf der Geschichte und vor allem das Ende waren für mich persönlich unvorhersehbar. Es hätte schlichtweg alles passieren können. Dadurch, dass wir nicht wirklich wissen können, was sich in der Welt dort draußen abspielt und die Gefühlswelt und Hoffnungen des Ungebornen in die Erzählweise miteinfließen, ahnte ich nie, welche Richtung die Geschichte schließlich einschlagen würde. Die Unberechenbarkeit des Lebens und die der Menschen sei es zu verdanken, dass dieser Roman stets mit Überraschungen auflauerte und mit einem passenden Finale endete.

Es gibt da ein Buch, das ich lesen möchte, noch unveröffentlicht, noch ungeschrieben, der Anfang aber steht. Ich will das Ende von Meine Geschichte des Einundzwanzigsten Jahrhunderts lesen. Und ich will dabei sein, auf der letzten Seite, paarundachtzig Jahre alt, tatterig, aber durchaus noch rüstig, will am Abend des 31. Dezember 2099 ein Tänzen wagen.
Nussschale | Ian McEwan | Seite 180


Mit Nussschale hat Ian McEwan ein Meisterwerk erschaffen, welches mit einer grandiosen Erzählperspektive und einer beeindruckenden Sprachkunst besticht. Nicht nur die eigentliche Thematik, die den Ungeborenen beschäftigen, sondern auch die Nebenhandlungen rund um das Weltgeschehen und die zwischenzeitlichen gedankenverhangenen Grübeleien über den Sinn des Lebens und dem eigenen Sein, ließen diesen Roman zu einem wahren Literaturgenuss aufsteigen. Für mich persönlich ein beeindruckendes Highlight, welches bei mir vor allem durch den geistreichen Humor und der Idee der Perspektive aus Sicht eines Ungeborenen Bewunderung gefunden hat.


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