Der Morgen in Südfrankreich erwacht. Ein neuer Ferientag wartet auf die Gäste im kleinen Schloss. Doch von einem Moment auf den anderen ist das Idyll passé, die Ruhe und Unbeschwertheit vergessen: Mit einem Wäschekorb in der Hand stolpert Marie, die mit ihrem Partner Franz ihren Urlaub auf dem Anwesen von Pierre verbringt, auf der Terrasse, fällt hin, landet mit ihrem Kopf unglücklich auf einem Metallrohr. Tot. Von jetzt auf gleich, ohne Vorwarnung, ohne Chance. Zunächst senkt sich die Ungläubigkeit über die Versammelten, dann der Schock und die Trauer. Jede*r hängt ihren*seinen Gedanken nach, lässt Vergangenes Revue passieren, hinterfragt Kommendes. Da ist Dorothea, deren Beziehung zu ihrem Mann Mauro bereits gehörig kriselt und die voller Angst und Unsicherheit ob ihrer eigenen Individualität in die Zukunft blickt. Oder Odile und Nick, die fast wie zwei Faktoten aus unterschiedlichen Gründen ihre Zeit auf Pierres Schloss verbringen. Was bleibt, ist die Lücke, die Marie hinterlässt.
„Wir schoben die Kinder vor, befürchteten Schäden, Unverdaubares. Wir waren es. Die nicht wussten, welche Worte, welche Nähe. Wie viel Distanz“. (S. 87)
Mit einem präzisen Gespür für das Moment der Ruhe kreiert Ilia Vasella eine Situation, die ihre Figuren aus deren Ferienalltag reißt. So unglaublich wie dieser Unfall zu sein scheint, so menschlich und nachvollziehbar sind die Reaktionen der Figuren. Da wird sich verkrochen, da ist Redebedarf, man erinnert sich an gemeinsame Erlebnisse – meistens an die unwichtigsten – und ist voller Übersprungshandlungen. Vasella porträtiert die Menschen in den Situationen, die sich sonst hinter verschlossenen Türen abspielen, und lässt uns an deren Umgang mit dem Tod teilhaben.
„Windstill“ ist ein Roman, der nicht durch eine wendungsreiche Handlung gekennzeichnet ist. Auf der Handlungsebene ist auf den ersten zwei bis fünf Seiten alles erzählt: Marie ist tot – und nun? Hier geht es um das Aushalten. Vasella thematisiert das Erdulden der Machtlosigkeit ihrer Figuren und zwingt ihre Leser*innen in die Betrachtung von Situativem. Das gelingt ihr wirklich ganz vorzüglich, lernt man doch auf nur 160 Seiten so viel über das Leben dieser Individuen, über ihr Innenleben, ihre Sorgen, Ängste, Nöte, Wünsche. Ihre Sprache ist knapp und elliptisch, Sätze brechen ab, werden wieder aufgenommen und verbildlichen die Gedankensprünge der Figuren. Schlaglichtartige Perspektivwechsel vom allwissenden Erzähler hin zur Ich-Erzählerin Dorothea, die als personifiziertes „Und nun?“ auftritt, lassen uns durch verschiedene Augen auf das Geschehen blicken. Besonders intensiv wird die Thematisierung des Todes durch die Äußerungen der Kinder, die voller Wahrheit unverblümt aussprechen, was die Erwachsenen nicht einmal zu denken wagen.
Vasella hat mit ihrem Roman, der eigentlich eher als Novelle betrachtet werden muss, eine ganz andere Art von Ferienlektüre geschaffen, die zum Nachdenken anregt: über das Ich und das Wir und den Tod. Ein kluger Text!