Wie wird man Millionär in einer Gesellschaft, die dem individuellen Reichtum abgeschworen und das kollektive Glück an dessen Stelle gesetzt hat? Dieser Frage geht das russische Autorenduo Ilf/Petrow in seinem 1931 erschienenen Roman Das goldene Kalb nach. Der in Deutschland angefügte Untertitel „Ein Millionär in Sowjetrussland“ gibt die Richtung der Geschichte gleichsam vor.
Die Hauptfigur, der Überlebenskünstler und Hochstapler Ostap Bender, schwingt sich zum Anführer einer kleinen Schar von Betrügern und Galgenbrüdern auf, die alle versuchen, dem vorgeplanten Lebensweg des sowjetischen Bürgers, dessen Alltag aus Arbeit und Kollektivismus besteht, aus dem Weg zu gehen. Mit Witz, Bauernschläue und dem nötigen Quentchen Glück begibt sich die Gruppe auf die Jagd nach einem nicht minder schweren Ganoven, der in mühevoller Arbeit ein immenses Vermögen angehäuft hat. Dieser unscheinbare Angestellte, Alexander Iwanowitsch Korejko, wählt für sich das Leben eines Parasiten, der innerhalb der kommunistischen Gesellschaft agiert und sie in den Jahren des industriellen Aufschwungs und der sozialen Unsicherheit zu seinen Gunsten manipuliert bzw. ausplündert. Auf die Rückkehr des Kapitalismus hoffend, hortet Korejko seine Millionen eifersüchtig. Als er merkt, dass Bender und seine Kumpanen ihm auf der Spur sind, nimmt eine wilde Verfolgungsjagd ihren Lauf, die schließlich in den tiefsten Tiefen der kasachischen Steppe ihren Höhepunkt findet.
Neben diesen komischen, satirischen Momenten beinhaltet Das goldene Kalb aber auch verschiedene Kritiken. So etwa wird der sowjetische Beamte an den Pranger gestellt, der, weit entfernt von den Direktiven der kommunistischen Propaganda, lieber seinem persönlichen Glück nachjagt, und unangenehmen Fragen und Verpflichtungen lieber aus dem Weg geht. Gleiches gilt für deren Vorgesetzte, die ebenfalls wenig Motivation zeigen, die angestrebten Ziele des ersten Fünf-Jahres-Plans umzusetzen. Die in den frühen Zeiten der Stalin-Ära noch existierenden Spannungen zwischen Individualismus und Gemeinschaftswohl, zwischen Kapitalismus und Planwirtschaft sowie zwischen Reichtum und materieller Gleichheit sind im Text sehr präsent und geben einen wunderbaren Einblick in die Welt der noch jungen Sowjetunion.
Darüber hinaus aber ist es auch das Anliegen der Autoren, der Frage nachzugehen, ob Reichtum wirklich glücklich macht. Denn selbst als Bender sich am Ziel seiner Wünsche sieht, fühlt er eine innere Leere, die der materielle Konsum nicht auszufüllen vermag. Ilf/Petrow haben sich selbst stets zu den Werten der sowjetischen Gesellschaft bekannt. Aber sie haben auch die Notwendigkeit gesehen, die Schwächen und Untiefen dieses Systems mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln aufzudecken. Dies ist sicher der Grund dafür, dass der Text in der UdSSR zuerst verboten werden sollte. Nur auf Intervention Maxim Gorkis hin erlangte Das goldene Kalb seine Veröffentlichung.
Der Text hat, wenn überhaupt, nur die Schwäche seiner Länge. In knapp fünfhundert Seiten werden eine Unmenge von Personen in ebenso vielen Episoden und Anekdoten durch die Geschichte gejagt, sodass die Lektüre an der einen oder anderen Stelle etwas langatmig erscheint. Demgegenüber stehen aber der flüssige Stil sowie der Mut, sich dieser Thematik anzunehmen und auf humoristisch-satirische Weise der sowjetischen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Daher ist Das goldene Kalb ein absolut lesenswerter Text und eine klare Empfehlung.