Rezension zu "Die Zitronenkinder aus der Haifischgasse." von Ille Otter (Ilse Doering)
Die Haifischgasse ist kein schöner Ort. So viel verrät die Autorin auf der ersten Seite. Aber den Zitronenkindern ist sie Heimat. Es ist Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Hamburg. In einer der wenigen Gassen die während des Krieges nicht zerstört wurden, leben die Familien der Zitronenkinder. Es sind einfache, ja arme Leute. Gewürzmüller, Fischer, Hafenarbeiter. Geld ist knapp.
Das merkt vor allem die Klasse 6b, die schon seit langem eine Sommerreise machen möchte. Um das Ziel zu erreichen gründet man einen geheimen Club. Das Unternehmen Hallig Nr. 7. Jeden Tag wollen die Kinder der Klasse 7 Pfennig sammeln und so gemeinsam auf die Klassenreise sparen. Also hilft man der Nachbarin beim Einkauf, erledigt Botengänge, hilft bei der Arbeit der "Großen" um Geld zu verdienen. Das klappt auch gut, bis die Kinder der Haifischgasse in Naturalien bezahlt werden. Zitronen statt Geld. Wer den Ärger hat, der braucht für den Spott nicht mehr zu sorgen. Und so ärgern sich die Zitronenkinder am Hafen über das fehlende Geld und den neuen Namen. Dabei treffen sie auf die etwa gleichalte Chin Yu aus dem fernen Hong Kong, die bei ihrem Onkel Tjimen eigentlich lernen soll wie ein gutes Restaurant geführt wird, die von diesem aber mehr als Sklavin gehalten, und regelmäßig geschlagen wird.
Die Zitronenkinder sind entsetzt. So etwas darf nicht sein. Der Klassenrat beschließt das Unternehmen Hallig Nr. 7 in das Unternehmen Mandelblüte umzubenennen. Alles Geld das bereits gespart wurde geht nun in die Rettung Chin Yus.
Ich habe dieses Juwel der Kinderliteratur Anfang der Neunziger Jahre entdeckt, und es begleitet mich seit dem. Sicher. Als Erwachsener fallen mir dutzend andere Möglichkeiten ein Chin Yu zu helfen, aber als Kind ist alles was die Klasse 6b tut logisch und durchdacht. Das Misstrauen der Kinder in die Erwachsenen ist verständlich. Einem fremden Chinesenmädchen zu helfen ist selbst heute, 2022, keine Selbstverständlichkeit, und wir sind im Deutschland kurz nach dem Krieg. Die Not Chin Yus, die geplagt von Heimweh bei ihrem misshandelnden Onkel leben muss, ist vom ersten Moment an greifbar. Das die Kinder helfen wollen, ja helfen müssen (!) eine logische Folge daraus. Der einzige Schwachpunkt ist meiner Meinung nach der märchenhafte Schluß. Chin Yu treibt die Elbe hinunter nach Cuxhaven und trifft genau zu der Zeit ein, als der Dampfer ihres Bruders Tschu dort anlegt... Ende gut, alles gut.
Andererseits ist die ganze Geschichte ein Märchen und so passt es dann auch wieder. Ich kann dafür keinen Stern abziehen, weil es mich als Kind zu sehr gefesselt hat.
Kurz: Die Zitronenkinder aus der Haifischgasse ist ein zu Unrecht in Vergessenheit geratenes Kinderbuch. Ich habe es meinen vier Kindern vorgelesen und liebe jede Seite.