Rezension zu "Über Mut im Untergrund" von Ilse-Margret Vogel
„Denn die Lehre solcher Geschichten ist einfach, ein jeder kann sie verstehen. Sie lautet, politisch gesprochen, dass unter den Bedingungen des Terrors die meisten Leute sich fügen, einige aber nicht.“
(Hannah Arendt)
Konnte man den Nationalsozialismus überleben, ohne sich anzupassen? War Widerstand möglich? Konnten Anstand und Freundschaft aufrecht erhalten werden? Nein, heißt die übliche Antwort. Zu stark seien die Repressionen und die Gefahren gewesen.
In diesem Buch dagegen werden diese Fragen mit einem deutlichen Ja beantwortet. Ja, es war möglich, aber es gehörten eine gehörige Portion Mut und auch Glück dazu. Und ein wenig Übermut; auch so lässt sich der Buchtitel lesen.
Ilse-Margret Vogel war eine mutige Frau, die in gefährlichen Situationen die nötige Geistesgegenwart besaß, um heil heraus zu kommen. Und es war für sie von Vorteil, in Berlin zu leben, denn in kleineren Orten war die Überwachung durch die Parteifunktionäre leichter durchzusetzen.
„Ich bin sicher, ich als impulsive Person wäre in einem Konzentrationslager geendet, wenn ich nicht in die Großstadt gezogen wäre. Unter den Berlinern, bekannt für ihren Widerstandsgeist, ihren galligen Humor und ihre Unabhängigkeit, waren Personen wie ich sicherer – trotz der Bombenangriffe.“
Im Buch werden die Geschehnisse in Berlin zwischen 1943 und 1943 nicht chronologisch erzählt, sondern anhand von Personen, mit denen Ilse-Margret Vogel zu tun hatte. Personen, denen sie geholfen hat, die sie gerettet hat, mit denen sie befreundet war.
Das war nicht immer einfach. So hat sie auf Wunsch eines Freundes einen Verfolgten bei sich aufgenommen und gerettet, der ihr furchtbar unsympathisch war und sich auch nicht gerade freundlich benommen hat.
Es war eines der moralischen Dilemmata jener Zeit: Darf man einen Verfolgten vor die Tür setzen? Ilse-Margret Vogel hat das erst geschafft, als sie selbst in durch den Leichtsinn des Mannes in Lebensgefahr geriet.
Den eigenen Anstand zu bewahren, war ebenfalls nicht leicht. Das ganze Leben beruhte auf Lug und Betrug, wobei man nicht umhin kam, auch selbst zu lügen und zu betrügen. Anders war ein Überleben nicht möglich.
Ilse-Margret Vogel erzählt lebendig und schonungslos von ihren Erlebnissen. Und sie lässt auch Peinliches nicht aus.
Denn der Anstand ging in allen Bereichen flöten, wie zum Beispiel bei den Abschiedsszenen am Bahnhof.
„Die meisten Soldaten wurden von ihren Frauen oder Freundinnen begleitet. Es gab Tränen und Umarmungen. Es gab mitleiderregendes Schluchzen – und es gab Sex. Wilden, schamlosen Sex. Auf den Bänken. Auf dem schmutzigen Betonfußboden. Die Leute stiegen über die sich windenden, stöhnenden Paare, als wären sie Steine auf einem Bergpfad.“
Wenn man nicht weiß, ob man sich wiedersieht, ob man den nächsten Tag noch erlebt, wenn man buchstäblich jeden Tag so lebt, als wenn es der letzte wäre, werden Anstand und Benimm zweitrangig. Im Angesicht der Apokalypse verschwimmen die Prioritäten.
Es ist nicht die richtige Zeit für Scham. Sie beiseite zu schieben, war die somit auch die einzige Art, auf die sich die Autorin vor der drohenden Vergewaltigung durch russische Soldaten retten konnte.
Bei allem Mut, der nötig war, um Verfolgte zu retten – das galt lange Zeit nicht als Widerstand, sondern nur als eine jener Aktionen, die auf einen Regimesturz zielten. Helferinnen und Helfer wie Ilse-Margret Vogel wurden nicht als Widerständler gesehen, auch, weil sie die Deutschen an ihr moralisches Versagen erinnerten. Deshalb gibt es auch so wenige Zeugnisse dieser Alltagswiderständler.
Eine Lücke, die durch dieses spannend zu lesende Buch endlich geschlossen wird.