„Eine Nation, eine Flagge, ein Vaterland, ein Staat“, lautet das Credo der türkischen Regierungspartei AKP unter Recep Tayyip Erdogan. Die Autorin Inga Rogg ist Türkei- und Nahost-Korrespondentin der NZZ, lebt in Istanbul und erfährt so manches aus erster Hand. Ihr ist es ein Anliegen, nicht nur Erdogan als Sündenbock dastehen zu lassen, sondern eine Entwicklung der Türkei aufzuzeigen, vom Anbeginn der Atatürk-Ära, der z.B. den Laizismus in der Verfassung festschreiben ließ. Seine Ideologie beruhte auf sechs Pfeilern: Nationalismus, Republikanismus, Revolutionismus, Populismus, Laizismus und Etatismus. Interessant finde ich folgende Aussage:
„Dass Atatürk ein Diktator war, räumen heute selbst viele seiner Anhänger ein. Das sei nötig gewesen, um die Türkei in die Moderne zu führen, sagen sie. Die Kulturrevolution wurde denn auch nicht von einem Bürgertum getragen, sondern von Staat und Partei von oben nach unten rigide durchgesetzt.“
Als Erdogan vor Jahren in die Politik ging, erschien es als sei nun der große Retter an die Macht gekommen, Religion und Demokratie schienen vereinbar. Doch was hat sich geändert? Was ist passiert, dass die Türkei heute von demokratischen Regeln weit entfernt scheint? Als begnadeter Rhetoriker schafft er es immer wieder, die Massen zu mobilisieren. Mit seinen ehemals großen Demokratieversprechen ist es nicht allzu weit her, er ist ausschließlich darauf programmiert, seine eigenen Macht zu vergrößern – egal mit welchen Mitteln. Sein Ziel ist es, die Gesellschaft nach seinen Vorstellungen zu gestalten, erlässt Steuern und Verbote, wie es ihm gefällt.
„Das alles geschieht unter dem Deckmantel von Volksgesundheit und Jugendschutz und mit dem Verweis auf Europa. Der Haken daran ist dass die Türkei kein wirkliches Alkoholproblem hat, die überwiegende Mehrheit der Türken ist abstinent oder trinkt in Maßen. Die Verbote führen stattdessen dazu, dass der Konsum von billigen und gefährlichen synthetischen Drogen steigt.“
Inga Rogg versucht sachlich einen Blick auf ein konfliktgebeuteltes Land zu werfen und diese Probleme zu analysieren. Obwohl man natürlich merkt, dass sie nicht zur Pro-Erdogan-Liga gehört, versucht sie den mahnenden Zeigefinger nicht immer zu erheben. Sie interviewte überzeugte Anhänger Erdogans ebenso, wie Menschen, die Angst haben, eine gegenteilige Meinung zu äußern. Sie wird vom Sog einer AKP-Demo mitgezogen und versucht zu verstehen, warum Menschen sich dermaßen mitreißen lassen – Manipulation lässt grüßen.
Man merkt, dass der Autorin das Land und die Menschen am Herzen liegen. Sie wünscht sich eine Türkei, in der alle Menschen zusammenleben können, ohne irgendwelche Nationalmythen in den Fokus zu stellen.
Das Buch ist sehr flüssig und informativ geschrieben, jedoch hätte ich mir ein Literaturverzeichnis gewünscht. In Sachbüchern möchte ich weitere Literatur ebenso wie ein Quellenverzeichnis (auch dieses fehlt).