Rezension zu "Die Lüge der digitalen Bildung" von Gerald Lembke
In dieser mittlerweile 3. Auflage nach nur drei Jahren untersuchen Prof. Gerald Lembke und Dipl.-Volkswirt Ingo Leipner den Einfluss digitaler Medien auf die Lern- und Denkentwicklung von Kindern.
Anlass zu dem Buch waren die immer lauter werdenden Rufe der Öffentlichkeit nach Digitalisierung von Grundschulen und sogar Kindergärten, damit Deutschland auf diesem Feld nicht den Anschluss verpasst. Dass dieser Ansatz kontraproduktiv ist und mehr schadet als hilft, zeigen die beiden Autoren durch die Anwendung von Erkenntnissen aus der Psychologie, Pädagogik und Neurobiologie auf die Entwicklungsschritte, die Kinder mit und ohne digitale Frühförderung durchlaufen.
Über die Autoren
Entgegen anderslautender Behauptungen (siehe Vorwort) kann man den beiden Autoren ihre Fachkenntnisse im Bereich digitale Bildung nicht absprechen. Prof. Dr. Gerald Lembke leitet den Studiengang Digitale Medien an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Mannheim, ist Keynote-Speaker für digitale Transformation und setzt sich als Präsident des Bundesverbandes Medien und Marketing für eine nachhaltige digitale Entwicklung ein. Diplom-Volkswirt Ingo Leipner ist Wirtschaftsjournalist, unter anderem für die digitale Transformation der Gesellschaft. Für die speziellen Einblicke in die Neurobiologie und die Effekte des Lernens mit digitalen Medien, insbesondere in Kapitel 11, wurde Frau Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt zu Rate gezogen, die ehemalige Leiterin des Bereichs Neuroanatomie/Humanbiologie an der Universität Bielefeld.
Inhalt
Das Buch gliedert sich in 2 Teile, die sich an der Entwicklung des (kindlichen) Gehirns orientieren und in insgesamt 11 Kapitel unterteilt sind. Abschließend listen die Autoren 10 Thesen, die ihre Position bezüglich des Einsatzes digitaler Medien in den verschiedenen Altersstufen noch einmal zusammenfassen.
Teil 1
Kleinkinder, Kindergarten und Grundschule
1. Brilliante Babys
2. Im Kreuzfeuer der Werbung
3. Impulskontrolle
4. Denken lernen
5. Digital schnell entwurzelt
Teil 2
Weiterführende Schulen, Ausbildung und Studium
6. Lernen verlernen
7. Anfassen statt angucken
8. Medienkompetenz
9. Fit für die Zukunft
10. Profit
11. Murks statt MOOCs / Wenn alles schiefgeht / Zu Risiken und Chancen fragen Sie das Gehirn
Anhand anschaulicher Beispielsituationen verdeutlichen die Autoren, dass die Medienkompetenz, die durch digitale Frühförderung angestrebt werden soll, nicht zwangsläufig durch bessere und größere IT-Ausstattungen von Grundschule und Kindergarten erreicht wird. Vielmehr plädieren die Autoren für entsprechend ausgebildete Lehrer, die den Kindern auch ohne Technik dabei helfen, ihre Welt zu verstehen und Phänomenen auf den Grund zu gehen. Erst wenn Kinder im wahrsten Sinne des Wortes Dinge erfahren und begriffen haben, kommt es zu den notwendigen Vernetzungen im Gehirn, die zu Verständnis, Entscheidungsfähigkeit und der Fähigkeit zu (kritischen) Bewertungen führen. Genau solche Entwicklungen sind es, die die Kinder später, etwa ab 12 bis 14 Jahre, in die Lage versetzen, sich differenziert und kontrolliert mit digitalen Medien zu beschäftigen und den vollen Nutzen daraus zu ziehen. Diese Art der Medienkompetenz ist, was das Ziel der Digitalisierung sein sollte, nicht die Wisch- und Bedienfertigkeiten eines Digital Natives, der zwar ein Tablet bedienen kann, aber von den digitalen Inhalten vollkommen erschlagen und überfordert ist.
Bei aller Kritik liegt es den Autoren fern, die Technik vollständig zu verteufeln; ganz im Gegenteil: Für ein an der greifbaren Realität gewachsenes Kinderhirn, das kontrolliert, eigenständig und kritisch an seine Umwelt herangeht, steht einem sinnvollen und gewinnbringenden Einsatz digitaler Medien ab dem Alter von ca. 12 bis 14 Jahren nichts im Weg.
Fazit
Ich habe das Buch sehr genossen, da es mir aus der Seele spricht. Wie oft liest man im Internet mittlerweile, dass Eltern Kurse belegen, aus Angst, dass sie schon jetzt mit ihren Kindern nicht mehr mithalten können - schließlich sind diese als Digital Natives per se den Eltern überlegen, da sie mit digitalen Medien aufgewachsen sind. Das Buch entzaubert jedoch diesen Mythos und legt dar, dass hinter wirklicher Medienkompetenz und hinter einem verantwortungsbewussten Umgang mit dem Strom digitaler Einflüsse mehr steckt als nur schnell tippen zu können und hunderte Likes in den Sozialen Medien zu sammeln. Ja, die Kinder sollen ruhig (begrenzten) Zugang zu digitalen Medien haben, aber dieser Zugang darf die realen Sinneserlebnisse nie so weit ersetzen, dass eine Jugend heranwächst, die sich durch die Technik konditioniert wie ein Pavlovscher Hund unkontrolliert und unreflektiert von einem Link zum nächsten klickt. Denn dann hat Deutschland den Anschluss an eine erfolgreiche digitale Transformation auf alle Fälle verpasst.