Präzise Einblick in die gewordene Welt von heute
„Komm, lass uns das Thema wechseln. Ich will mich nicht streiten. Nicht auch noch mit Dir – jedenfalls nicht jetzt“.
Wer kennt solche Momente nicht, zur Zeit? Und selbst, wenn es gar nicht ausgesprochen wird, „um des lieben Friedens willen“, selbst in engen Freundschaften und Bekanntschaften, selbst in den Familien, seien es andere Einschätzungen, echtes „Querdenken“, sei es Impfung und Impfpflicht, Haltungen zur Weltpolitik, was man vor einigen Jahren über amerikanisches „Auseinanderdriften“ in Bezug auf Donald Trump in hiesigen Breitengraden nur aus der Ferne wahrnehmen konnte, ist inmitten der entwickelten Gesellschaften in voller Breite inzwischen angelangt.
Unversöhnbar scheinende Haltungen, Vermischung von Emotionen, Meinungen und Fakten, strikte Behauptung eigener Standpunkte und vieles mehr zeigen das Bild von Gesellschaften unter Druck, gespalten, auseinanderstrebend statt gemeinsam dem immensen Druck der Gegenwart zu begegnen.
Nun gelingt in jenem Dialog unter der Überschrift „Schaffen wir das“ den beiden Protagonisten noch die Kurve zueinander. Was aber eher an der tiefen Bindung der beiden zueinander liegt, als an den Argumenten.
Immerhin, Schulze liefert hier eine gut lesbare, zutreffende Blaupause für ein „Miteinander Ringen“ in fast „feindlichen“ Zeiten.
Was hier und da in den Essays dieses Werkes immer wieder mitschwingt und aufgenommen wird. Gerade in den literarischen Betrachtungen Schulzes, der den Leser an seinen Lektüren und seiner Reflexion derselben intensiv mit teilhaben lässt.
„Eine Welt erschaffen aus bodenloser Sprache“ ist so eine Auseinandersetzung in Gesprächsform über Tschwengur“ von Platonow. Gerade weil dieses Werk in seiner ganz eigenen Form die „Formen auflöst“.
„Nichts ist mehr so, wie wir dachten, alles wird unvertraut“.
Und das bei Platonow eben nicht nur als intellektuelle Darbietung, wie der Leser im Essay im Buch erfährt, sondern als Erlebnis durch Stil und starke „Veränderung“ der literarischen Kategorien. Und wenn schon einer wie Schulze bekennt, dass er für jede Seite drei- bis viermal so lange Lektürezeit benötigt wie bei „üblichen „ Werken, dann bietet auch dieses Essay umgehend Einblick in eine sich „entfremdende“ Welt, die dennoch gestaltet werden will und muss.
Das passt in Schulzes ebenfalls ganz eigene Betrachtungsweise der Welt, in der wir leben. Anders zu denken. Aus anderen Richtungen und anderen Axiomen heraus die Welt zu betrachten, in der so vieles, Machtansprüche, „Geschäfte über alles“ und die alles überrollende Macht des Kapitalismus, quasi als nicht mehr hinterfragt und gesetzt gilt,
Ohne dabei, und das ist natürlich wichtig, in eine Vergangenheitsverklärung zu verfallen. Auch das sozialistische System, das ihn selbst mitgeprägt hat noch, findet keine Gnade vor seinen Augen, wie Schulzes eigene Biographie nachdrücklich aufzeigt.
Klug und mit klarer Sprache analysiert Schulze damit in seinen Essays „persönlichen Erlebens“ aus den verschiedensten Perspektiven heraus eine erodierende Welt, in der es wenig konstruktive Antworten zu geben scheint.
„ist Intensität nicht das, was ich mir wünsche“?
Vielleicht ja, auch wenn gerade diese echte Intensität nichts ist, worüber Schulze oder jemand sonst einfach frei verfügen könnte.
Das Konstruktive dann zu sehen, sich zu fragen, welche Haltung, welche Ereignisse einen „guten“ Ausweg bieten würden, das liest sich in diesen Essays, wenn überhaupt, nur zwischen den Zeilen und fordert den Leser damit aber auch positiv heraus, sich seine eigenen Gedanken in Zustimmung, Irritation, Ablehnung der Gedanken von Ingo Schulze heraus zu arbeiten. Und bietet durch das Offenlegen dessen, was Schulze im Lauf der Zeiten bewegt hat und bewegt einen eigenen Ansatz, mit offenen Augen auch „quer gegen das scheinbar Geltende“ dem Leben neue Inspirationen für das eigene Denken abzugewinnen.
„Ich bin nie stolz auf ein Buch gewesen, weil ich nie das Gefühl hatte, es wäre mein Verdienst gewesen, dass es zustande gekommen ist“.
In dieser Sammlung von Essays nun findet der Leser nicht nur einen differenzierten Blick auf die moderne Welt, sondern auch vielfältige Hinweise auf das, von dem Schulze meint, dass es „seine Bücher schriebt“.
Eine vielfältige, anregende Lektüre.