Cover des Buches Der Weg aus der Finsternis (ISBN: 9783743964716)
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Rezension zu Der Weg aus der Finsternis von Ingrid Zellner

Aus der Dunkelheit zum Licht

von mabuerele vor 6 Jahren

Kurzmeinung: Beeindruckendes Buch! Was den einen bricht, macht den anderen stark!

Rezension

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mabuerelevor 6 Jahren

„...Das größte Leid bringt die stärksten Seelen hervor, die stärksten Charaktere sind mit Narben übersät...“


Dieses Zitat steht zu Beginn eines beeindruckenden Romans. Wie treffend es gewählt war, wusste ich, als ich das Buch gelesen zur Seite gelegt hatte.

Vikram Sandeep holt die Bewohner des Waisenhauses von der Schule in Srinagar, einem Ort im Kashmir, ab. Doch nach kurzer Zeit ist die Fahrt zu Ende, denn ein Reifen muss gewechselt werden. Da spricht ihn ein Fremder an und bietet seine Hilfe an. Vikram lehnt zwar ab, aber während des Reifenwechsel kümmert sich der Fremde um die Kinder. Sie nehmen ihn sofort in ihre Mitte auf. Das erstaunt Vikram, denn normalerweise sind sie sehr zurückhaltend.

Raja Sharma, der Fremde, fährt mit ins Waisenhaus. Dort erzählt er am Abend am Lagerfeuer Vikram seine Geschichte.

Die Autorin hat einen fesselnden Roman geschrieben. Die Geschichte hat mich schnell in ihren Bann gezogen, und das Buch ließ sich nur schwer aus der Hand legen.

Vikram und seine Frau Sameera leiten ein Waisenhaus. Ihr Leben wird im Vorgängerband „Das Haus des Friedens“ erzählt. Das Waisenhaus gleichen Namens und seine Bewohner bilden hier im zweiten Teil nur die Rahmenhandlung.

Im Mittelpunkt steht Raja Sharma und sein Weg aus der Finsternis. Der Mann, der heute vor Vikram steht, fällt durch seine Ruhe und Besonnenheit aus. Seine Ausstrahlung hat ihm nicht nur die Herzen der Kinder geöffnet. Auch der sehr misstrauische Vikram ahnt, dass der Fremde genau wie er selbst schwierige Zeiten durchlebt hat.

Der Schriftstil des Buches ist anschaulich und detailgenau. Der Roman spielt vorwiegend im indischen Bundesstaat Maharashtra. Die Autorin lässt mich als Leser einen Blick in die Vielfalt der indischen Gesellschaft werfen. In der Unterwelt regieren Männer, die in der Lage sind, mit Geld fast alles zu erreichen. Vertreter von Polizei und Justiz sind bestechlich. Allerdings gilt das nicht für alle. Deutlich wird, dass derjenige, der einmal in die Mühlen der Gerichte geraten ist, durch ein dunkles Tal muss, egal ob er schuldig oder unschuldig ist. Einen großen Wert kommt in dem Buch dem Thema Freundschaft zu. Sehr schön wird gezeigt, dass Dankbarkeit auch in dunklen Zeiten halten kann. Menschen können sich ändern, wenn sie wollen und einen Freund an ihrer Seite haben, der ihnen den Weg weist sowie Halt und Kraft gibt. Gut gelungen ist die Balance zwischen dem modernen Indien und den Hinweisen auf alte Riten und Traditionen. Einige geben die Freude und Lebenslust der Einheimischen wieder, andere sind Symbole für Treue und Zuneigung. Doch es gibt auch negative Beispiele. So ist das Schicksal vieler indischer Witwen hart und bitter.

Als besonderes Stilmittel lässt mich die Autorin ab und an einen Blick in Rajas Kindheit und Jugend werfen. Diese Teile werden von ihm selbst erzählt und in einer eigenen Schriftart wiedergegeben. Gut gefallen haben mir die Verwendung lokaler Begriffe. Sie erklären sich meist aus dem Sinnzusammenhang. Ab und an wird auch auf die englische Sprache zurückgegriffen. Kursive Szenen geben die Gedanken der Protagonisten wieder. Folgendes Zitat ist ein Beispiel für den bildhaften Sprachstil der Autorin:

„...Aber mit Sicherheit hätte ich mir keine Bombe ins Haus geholt, bei der die Lunte schon brennt...“

Die Verwendung von Metaphern, die geschickte Nutzung treffender Adjektive und gut ausgearbeitete Dialoge durchziehen die Handlung. Über allem schwingt der Reiz des Exotischen, ohne dass ich genau formulieren könnte, wie es dazu kommt.

Viel Wert wird auf die Emotionen der Protagonisten gelegt. Dabei geschieht das weniger durch Worte, mehr durch Handlungen oder kleine Gesten. Suryas Unbeherrschtheit, Sitas Liebe, Kajris Angst sind Beispiele dafür. Gut beschrieben werden die Handlungsorte. Auch Nebenfiguren der Handlung erhalten im übertragenen Sinne ein Gesicht.

Der Spannungsbogen ist hoch. Das liegt an der abwechslungsreichen Geschichte, die häufig nicht vorhersehbar ist, und an den komplexen Beziehungen der Protagonisten. Gut finde ich, dass Grausamkeiten nicht detailliert dargelegt werden, sondern meist nur die Folgen im Mittelpunkt stehen.

Kleine Momente der Ruhe hat die Autorin bewusst dadurch eingebaut, dass am Ende jedes Kapitels die Rückblende in die Gegenwart zu Vikram und Raja erfolgt. Mit wenigen Worten wird dann das Gehörte kommentiert oder verarbeitet.

Ein einleitendes Vorwort und ein umfangreiches Glossar ergänzen die Handlung.

Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es hat mich nicht nur sehr gut unterhalten, sondern ist in unter anderem der Person von Raja eine Plädoyer für Menschlichkeit und Großzügigkeit. Das heißt nicht, dass Raja ein Protagonist ohne Fehler ist. Er hat auch seine Ecken und Kanten. Gerade das aber macht ihn sympathisch und zum Vorbild, auch wenn er das selbst anders sieht, wie das abschließende Zitat zeigt:

„...Für ein Vorbild habe ich in meinem Leben entschieden zu viele Fehler gemacht...“

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