Bei all den fürchterlichen Berichten aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gerät es oft in Vergessenheit: Es gibt auch noch ein anderes, ein besseres Russland. Es gibt sie, die Menschen mit Zivilcourage, die Täter und Opfer beim Namen nennen und nicht an die Lüge von der Spezialoperation glauben. Und unter den Mutigen und Engagierten, die sich Wahrheit und Aufklärung verschrieben haben, sind auch die Menschen der Menschenrechtsorganisation "Memorial", schon seit mehr als 30 Jahren.
"Erinnern ist Widerstand" lautet der Untertitel von "Memorial" von Irina Scherbakowa, Filipp Dzyadko und Elena Zhemkova. Das Buch ist einerseits ein Porträt der Organisation und ihrer Entstehungsgeschichte in den Jahren der Perestrojka und der mit ihr verbundenen Hoffnungen, die nun so unendlich weit weg erscheinen.
Damals, im Jahr 1989, fanden sich ehemalige Dissidenten wie Andrej Sacharov mit Vertretern der gerade entstehenden Zivilgesellschaft zusammen, um die Geschichte des Unrechts und der Menschenrechtsverletzungen der Sowjetunion von unten aufzuarbeiten, gerade auch die Geschichte des Gulag- und Lagersystems, der stalinistischen Schauprozesse und der in Sippenhaft genommenen Angehörigen von "Volksverrätern".
"Memorial" ist einerseits ein knapper historischer Abriss, vor allem aber eine Reihe von Essays, Interviews und Reflektionen, die zeigen: die Entwicklung Russlands unter Putin machte viele Pläne zunichte. Mittlerweile ist die Organisation verboten, viele ihrer Vertreter sind im Exil. Die Arbeit geht weiter, auch in Nachfolgestaaten der Sowjetunion.
In "Memorial" kommen Stimmen aus dem Baltikum zu Wort, aus Polen oder der Ukraine. Es geht nicht nur um die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft. Das Schicksal des im Straflager ums Leben gekommenen Alexej Nawalny - man kann auch sagen: Mord durch Lagerhaft - erinnert daran, dass das System der Lager nicht mit dem Tod Stalins endete. Doch die Arbeit von Memorial geht weiter. Und eine Hoffnung scheint derzeit noch wie Utopie: Dass eines Tages Ukrainer und Russen gemeinsam den Angriff auf die Ukraine aufarbeiten.