"[...] es war nichts Verwerfliches an der Sehnsucht, zu den Orten zurückzugehen, die einen geprägt hatten. Nicht, um einmal gefasste Überzeugungen zu bestätigen, sondern um abzugleichen, wo man unterdessen ein anderer geworden war." (S. 179)
Es fällt mir schwer, zu glauben, dass dieser Roman gerade mal 216 Seiten hat. Und so wunderschön das Cover ist, so lesenswert ist der Inhalt.
In "Die Unschärfe der Welt" zeichnet Iris Wolff das Bild einer Familie, die über mehrere Generationen im Banat lebt - einer Region in Südosteuropa, die sich heute über mehrere Länder (Rumänien, Serbien, Ungarn) erstreckt.
Einzelne Episoden werden herausgegriffen, scheinen zunächst zusammenhanglos, sind aber am Ende eng verwoben und spielen dabei nicht nur im Banat, sondern beispielsweise auch in der DDR. Die Sprache ist nicht nur poetisch unglaublich dicht und reichhaltig. Scheinbar mühelos werden auch die gesellschaftliche Umbruchstimmung und politischen Entwicklungen der Jahrzehnte thematisiert und zeichnen ein Bild von starkem Zusammenhalt bei gleichzeitiger Zerstreuung, das Bild einer Familie aus Bluts- und Wahlverwandten. Der Fokus liegt sowohl auf den dörflichen Dynamiken, die auf das Leben der Familie im Banat selbst einwirken, als auch auf den unterschiedlichen politischen Einflüssen, die auf die unterschiedlichen Glieder der Familie an ihren jeweiligen Orten, an die es sie treibt, einwirken.
Dass die Handlung sehr durchkomponiert ist, wirkt deshalb auch nicht künstlich, sondern verdeutlicht, dass es nicht nur um eine konkrete Familie geht, sondern generell um Fragen des Verlusts, der Trauer, des Loslassens und Widerfindens. Und darum, wie sich diese emotional intensiven Situationen sprachlich einfangen lassen.
Eher zufällig hat mich dieser Roman, den ich seit seinem Erscheinen schon lesen wollte, dann auch noch genau zur richtigen Zeit erwischt. Viele Zitate habe ich mir angestrichen, weil sie Worte finden für Gedanken, die ich selbst nicht so treffend hätte formulieren können.
Nicht nur die Handlung oder der Plot sind wichtig, sondern vor allem auch das Innenleben der Figuren angesichts einschneidender weltpolitischer Umbrüche. Eine für mich neue, großartige Autorin, deren Auszeichnung mit diversen Preisen ich gut nachvollziehen kann. Große Leseempfehlung!