Nützlichkeit, Festigkeit und Harmonie
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Vor knapp 2100 Jahren wurde der Begriff Architektur das erste Mal definiert. Der römische Architekt Vitruv (Marcus Vitruvius Pollio) erklärt ihn in seinen "Zehn Büchern über Architektur" als das Zusammenspiel von Baukunst und Technik, also die Kunst des Baumeisters und des Ingenieurs. Diese Kunst vereint ein gemeinsames Ziel: aus allen "Wichtigkeiten" logische Antworten entwickeln, um unter Beachtung der drei Kriterien der Architektur - Nützlichkeit, Festigkeit und Harmonie - ein stimmiges Ganzes herzustellen, das Ergebnis der Analysen, Skizzen und Modelle in Bauplänen aufzuzeichnen und "Schönheit zu vermaßen" (aus G. Fischer: "Vitruv NEU oder Was ist Architektur"). Daher gehört der Slogan "Auf guten Ideen gebaut" nicht umsonst zum Leitspruch vieler Architekturbüros.
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Um diese "Stein gewordenene Ideen" aus 5000 Jahren Baukunst der Menschheit geht es in dem Buch der Kunsthistorikerin Isabel Kuhl. Ein hoffnungsloses Unterfangen, möchte man meinen. Denn unglaublich viele Inspirationen wurden geboren, entwickelten sich und erfuhren schlussendlich mehr oder weniger erfolgreiche Umsetzungen. Um Vollständigkeit geht es der Autorin allerdings auch nicht, sondern wie es der Titel bereits verkündet, sie möchte sogenannte Meilensteine hervorheben. Isabel Kuhl setzt bei ihrer Auswahl Akzentuierungen auf Bauwerke, "die bis heute nachwirken und der Baukunst neue Richtungen eröffnet haben". Von den alten Ägyptern mit ihren "Häusern für die Ewigkeit" - den Pyramiden - bis hin zu den Baumeistern der Gegenwart wie zum Beispiel dem kugelförmigen Edelstahlbau des IMAX-Kinos La Géode, in dem sich der von Architekt Bernard Tschumi entworfene Parc de la Villette in Paris spiegelt oder dem grandiosen Guggenheim-Museum in Bilbao (Architekt: Frank O. Gehry) - spannt sie ihren Rahmen. Klassische Meisterwerke stehen im Vorderpunkt. Aber auch stilleren Entwürfen wie zum Beispiel dem Einsteinturm von Erich Mendelsohn in Potsdam oder dem Glass House von Philip Johnson in Connecticut wird Gelegenheit gegeben, sich einzubringen.
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Chronologisch aufbereitet gibt die Autorin kompetent, übersichtlich und informativ Auskunft. Allerdings unterliegen ihre 20 Kapitel keinem starren zeitlichen Ablauf, sondern es gibt immer wieder Überschneidungen. Inhaltlich liegen die Gliederungsschwerpunkte eher bei Bauaufgaben, technischen Errungenschaften oder Materialen, die der Architektur eine neue Wendung gaben. Dazu gehören, neben bereits erwähnten Pyramiden, zum Beispiel Säulen, Kuppelbauten und Gewölbe oder aber Baustoffe der Moderne wie Eisen, Stahl, Glas und "Licht". Kirchliche Sakralbauten bilden gleichfalls wegweisende Grenzsteine im Buch. Ebenso wie die Bauwerke der Renaissance und des Barock. Einen weiteren Abschnitt widmet Isabel Krahl dem Bauplan, einen anderen Wolkenkratzern oder aber den Funktionalbauten von Mies van der Rohe und Walter Gropius. Historische und geistige Grundlagen einer Epoche stehen nicht im Vordergrund der Darstellung, werden aber angesprochen, da ohne sie das Verständnis der Architektur kaum möglich ist. Auch der Architekt selbst kommt vergleichsweise kurz weg, was die Autorin mit seiner gesellschaftlichen Rolle begründet, die über weite Zeiten als eher marginal anzusehen war.
Eine objektbegleitende Zeitleiste auf jeder Seite bindet den Abschnitt in den jeweiligen zeitgeschichtlichen Rahmen ein und schafft dadurch eine gute historische Einordnung.
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Fazit:
"Ob aus Eisen oder Stein, von unbekannten Baumeistern, gefeierten Architekturgenies oder kühnen Ingenieuren - jedem Bauwerk liegt eine Idee zugrunde", schreibt Isabel Krahl. Einige der spannendsten Ideen in der Architekturgeschichte kann der Leser in diesem Kompendium bestaunen, nachlesen und sich mit ihnen, ihren Grundlagen und Vernetzungen zu beschäftigen. Denn "Werke dauern lange, so lange, wie sie uns beschäftigen. Je länger sie dauern, umso reicher können sie werden.", formulierte der deutsche Architekt und Hochschullehrer Günter Behnisch. Und weiter: "Was fertig ist, was niemanden mehr berührt, ist am Ende." Oder um es mit Johann Wolfgang von Goethe zu sagen: "Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen."