Eine der depressivsten und zugleich hoffnungsvollsten Coming-of-age-Storys:
Einerseits die bittere Erkenntnis, dass der Alltag nur für eine ganz bestimmte Gruppe von Bürger:innen reibungsfrei funktioniert. Andererseits das Realisieren, wieviel sich doch im Kleinen bewegen lässt, wenn man aktiv wird. (Zumindest wenn man als Teil dieser Gruppe wahrgenommen wird.)
Einerseits der Verlust einer scheinbar unbeschwerten Kindheit. Andererseits der Gewinn eines klaren, auf einem kompromisslosen Gerechtigkeitssinn basierenden, Wertekompasses, inklusive der notwendigen Sensibilisierung für die Probleme und Gefahren von Minderheiten.
Einerseits die Erfahrung von Hass und Ausgrenzung, bis zum Verlust von Sicherheit im eigenen Zuhause. Andererseits eine extrem positive Persönlichkeitsentwicklung, die ja letztlich Zeugnis dafür ist, dass selbst in den vermeintlich demokratiefernen Ecken Potenzial schlummert. Potenzial, das massiv von politischer Seite gefördert werden muss!
Spagat zwischen Heimat und motivierendem Umfeld
Der zweite Teil des Buchs schildert insbesondere die Zerrissenheit bzw. den Spagat zwischen dem kräfteraubenden Kampf als Demokrat und Antifaschist in der Heimat, und dem konstruktiven, motivierenden Umfeld am Studienort, wo jeglicher Aktivismus viel unbeschwerter durchgeführt werden kann. Eltern und Heimat sollen nicht verloren gehen, aber ohne die positive Energie im Studienumfeld, könnte man sein Potenzial kaum entfalten.
Es braucht eine kritische Schwelle zivilgesellschaftlichen Engagements, unter der es nicht nur gefährlich, sondern auch verdammt frustrierend und deprimierend ist, wenn man mit offenen (d. h. für Rassismus sensibilisierten) Augen durch den Alltag geht. Der Wunsch, die Hoffnung, der Glaube, dass das auch abseits der ostdeutschen Unistädte möglich ist, spricht trotz aller Verzweiflung aus jedem Satz des Buchs. Für mich ein Plädoyer für und eine Hommage an Zwickau zugleich, trotz des bedenklichen Status quo.
Erinnerungen die Basballschlägerjahre
Als in Jena während der Baseballschlägerjahre aufgewachsener Jugendlicher, kann ich das im Buch so wunderbar beschriebene ‚Awakening‘ ganz besonders nachvollziehen. Zwar war man durch die stärkere Präsenz von sichtbaren Nazis frühzeitig sensibilisiert, aber bis man das Ausmaß des Rassismus in der allgemeinen politischen Rhetorik, dem gesellschaftlichen Alltag verstanden hat, werden noch einige Jahre ins Land ziehen.
Während viele der antidemokratischen und faschistischen Ressentiments (auch durch die Abnahme sichtbarer Naziaktivitäten) bis in die späten Nullerjahre meist unter der Oberfläche geschlummert haben, sind sie seit dem NSU-Skandal, sowie dem Hofieren von Rassisten wie Sarrazin erst wirklich sichtbar geworden (für Alle die es sehen wollten zumindest).
Da ich zufällig meinen Lebensmittelpunkt zu der Zeit nach UK verlagert hatte, war jede Rückkehr nach (Ost-)Deutschland ein (Wieder-)eintauchen in eine andere Welt. Dort aufgewachsen, und doch irgendwie nicht mehr dazugehörend. So ähnlich stelle ich mir Jakobs Gefühlswelt zwischen Halle und Zwickau vor.
Ein wunderbares Buch
Lange Rede, kurzer Sinn: Danke für dieses wunderbare Buch! Ein wichtiger Beitrag, um den Glaube an die Menschheit nicht zu verlieren.
Stay strong! Stay safe! Stay human!
Von Karsten Haustein, Health4Future Leipzig