Rezension zu "Spurensuche, Eine Nachforschung" von Ivan Sandor
Zeuge gegen das Vergessen
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„Jener Punkt, auf den sich die Nachforschung bezieht, ist auch eine Landschaft, nur dass sie innen liegt und tiefer, als ich je vorgedrungen bin; dort, wo sich mir in einem von der Erinnerung geschaffenen Raum alles in der unzerstörbaren Kontinuität des einst Geschehenen auftut.“ Iván Sándor, einer der renommiertesten Autoren Ungarns, hat sich mit seinem neuen Roman auf „Spurensuche“ - so auch der Titel - begeben. Für seine Nachforschungen musste sich der heute 79 Jahre alte Autor weit zurück in die Vergangenheit bewegen.
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Lange hat Iván Sándor geschwiegen, aber „die Tiefe des Unbewussten ist ein ungeheures Lagerhaus, identisch mit dem Vergessen. Obwohl zuweilen ein Ton, ein Blick das Vergessene hervorlockt.“ Und diese Töne und Blicke gaben letztendlich den Ausschlag, dass tief Vergrabene an die Oberfläche zu holen und in Worte zu fassen. „Wie Umberto Eco wollte ich einen geschichtlichen Krimi schreiben, und ich möchte durch mein Buch auch die Leute in die Vergangenheit schubsen.“, erklärt der Autor in einem Interview. Ganz besonders einem Mann, dessen Mut und Einsatz vielen das Leben gerettet hat will Sándor ein Denkmal setzen: dem Schweizer Vizekonsul Carl Lutz. Obwohl er in Eigenregie zwischen 1942 und dem Kriegsende mehr als 60.000 Juden das Leben rettete, stand Lutz immer im Schatten des weitaus bekannteren Schweden Raoul Wallenberg.
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„Spurensuche. Eine Nachforschung“ basiert auf den autobiografischen Erlebnissen des jüdischen Schriftstellers aus dem Kriegswinter des Jahres 1944/45 im belagerten Budapest, den Sándor und auch seine Eltern wie durch ein Wunder überlebt haben. Gemeinsam mit seiner zwölfjährigen Freundin Vera entkommt der damals Vierzehnjährige seiner Verhaftung und den darauf folgenden Marschkolonnen, aus denen viele nicht wieder nach Hause kehrten. Der junge Iván agiert als Ich-Erzähler. Auf seiner Flucht finden er und Vera in Wohnheimen und Krankenhäusern, die unter dem Schutz des Schweizer Konsulats stehen, Asyl.
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„Ich bin der vierzehnjährige Junge und sehe das Gesicht eines alten Mannes, der mich beobachtet, während er über ein Blatt Papier gebeugt zu beschreiben versucht, was er sieht.“ Zwei Ebenen verwendet Sándor in seinem Roman. Lässt er hier noch den jungen Burschen berichten, springt die Erzählung abrupt zum Schriftsteller von heute, der durch die Straßen Budapests schlendert, auf den Pfaden der Erinnerung, der sich über alte Fotos beugt und diese zu entschlüsseln versucht. „Wir bewegen uns in derselben Geschichte, die Zeitregionen rutschen, von ihrer eigenen Energie angetrieben, übereinander.“ Diese Überlagerungen, die vielen fremden Straßennamen und die betont nüchterne Sprache, ja eine geradezu distanzierte Emotionalität, machen das Buch mitunter schwer lesbar. Doch „Zeit ist immer Gegenwart, in der vergangenen Gegenwart der Vergangenheit schichten sich viele vergangene Gegenwarte aufeinander, in der Gegenwart des Schreibens höre ich all diese Klänge zusammen mit jenem Klang, den ich hörte, als ich in der Dunkelheit nach vorn lief, Veras Hand in der meinen.“, schreibt der Autor in seinem Buch.
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Fazit:
Iván Sandors „Spurensuche“ - ein Roman beinahe in Gestalt einer dokumentarischen Filmsequenz - erinnert an die erschreckenden Ereignisse mit der einhergehenden Judenverfolgung des letzten Kriegsjahres in Budapest. Entstanden ist ein nicht ganz einfach zu lesendes, aber äußerst eindringliches Buch, das zeigt, wie eng Sándors Leben einst mit Carl Lutz verwoben war, obwohl er sich dessen jahrzehntelang nicht bewusst war. Doch während er die Vergangenheit neu erkundete, spürte er: „Endgültig verloren geht nur, was schon in Vergessenheit gerät, während es geschieht.“