Cover des Buches Die Nachtgänger (ISBN: 9783426197547)
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Rezension zu Die Nachtgänger von Ivo Stourton

Rezension zu "Die Nachtgänger" von Ivo Stourton

von HeikeG vor 16 Jahren

Rezension

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HeikeGvor 16 Jahren
Orientierung an Ängsten "Sein oder Nichtsein, ach darauf kommt es an." Wie vier junge College-Studenten Irrtümer zur Grundlage ihres Lebens machen, versucht Ivo Stourton in seinem etwas zu verspielten Erstlingswerk "Die Nachtgänger" zu veranschaulichen. Die Adoleszenz, das Übergangsstadium von der Kindheit zum Erwachsensein, stellt eine wichtige Phase im Leben eines Heranwachsenden dar. Die jungen Menschen versuchen ihre eigene Identität zu finden und verändern ihre sozialen Beziehungen und Rollen. Neue, möglicherweise widersprüchliche Wertvorstellungen werden entdeckt, es entsteht ein starkes Bedürfnis nach Unterstützung und Anerkennung durch Gleichaltrige. Unter Umständen können sehr divergente Anschauungen aufeinander treffen. Dies kann dann mitunter bei einem jungen Menschen zu ambivalenten emotionalen Einstellungen führen, die sich für das soziale Umfeld in mehr oder weniger auffälligen Verhaltensänderungen äußern. Der Wunsch, Lebensproblemen mit Alkohol oder Drogen zu entfliehen, das Gefühl von Macht und Stärke, wodurch die eigene Statusunsicherheit kompensiert wird, ist in der heutigen Zeit immer stärker ausgeprägt. Ivo Stourtons Erstlingswerk "Die Nachtgänger" zeichnet diese Phase der Rebellionsbereitschaft nach. Der Ich-Erzähler James Walker - in eben dieser Lebens-Sinnsuche und neu im Elite-College Cambridge - hat nur ein Ziel: sich aus dem Schatten seiner Kleinbürgerlichkeit herauszubewegen, um in den Personenkreis, "über die alle Welt redete", einzutreten. "Damals war es mir gleichgültig, welchen Ruf ich genoss, solange ich nur aus der Masse herausragte … Ich war von der Sehnsucht erfüllt, dazuzugehören." Der charismatische dunkelhäutige Francis Soulford, illegitimer Nachwuchs eines "stinkreichen", politisch engagierten Lords des englischen Oberhauses, die blonde Schönheit Jessica Katz, der Leadertyp Michael Findlay und die gewiefte Lisa sind diese "Lichtgestalten" und sie gewähren ihm "gnädigerweise" Einlass in ihre elitäre Welt: ein Leben im Drogen- und Partyrausch, fernab vom regulären Alltag der anderen Studenten. Die immerwährende kreative Suche nach neuen Abenteuern, nach einem Leben ohne Regeln und Verpflichtungen, bestimmt ihr Dasein. Das finanzielle "Beiwerk" steuert Francis bei. "Sein Reichtum war einfach ein wichtiger Bestandteil dessen, was seine Persönlichkeit ausmachte." Die Crew gestaltet illegale Boxwettkämpfe, wandert des nächtens über die Dächer der Stadt, verkehrt in elitären Clubs und erzielt gute Noten mittels eines von Lisa gemanagten "Beleg-Beschaffungs-Systems". Doch die Exzesse werden immer extremer und Francis’ Vater dreht seinem Sohn eines Tages den Geldhahn zu, wodurch dieses grenzen- und regellose Leben der "Fab Four" arg ins Wanken gerät. Ein flüchtiger Einfall Francis' entwickelt sich zur Obsession: Sie stehlen eine Original-Picasso-Studie aus ihrem College und fälschen diese, tauschen sie gegen die Kopie ein und versuchen das Original zu verkaufen. Das Risiko und die Möglichkeit eines Gelingens vermitteln einen neuen ekstatischen Taumel. Doch schon bald werden sie mit der Wirklichkeit konfrontiert - und das Erwachen aus dem kollektiven Rausch ist für alle entsetzlich... Ivo Stourton (Jahrgang 1982) könnte man, wenn er denn nicht in London geboren wäre, durchaus zu der neuesten amerikanischen Literaturerfindung seit Marisha Pessl oder Jonathan Safran Foer zählen: den "American Streber", diesen Wunderkindern, die all das sind, was im Wörterbuch unter precocious steht. Aber immerhin ist er in Washington (und Paris) aufgewachsen. Er hat die Schule in Eton besucht, war später selbst in Cambridge am College, wo er sein Examen in Englisch ablegte. Bevor er sich entschloss, Jura zu studieren. "Die Nachtgänger" ist sein erster Roman. Stourton erzählt die Geschichte als gedankliche Rückblende des mittlerweile im dreißigsten Lebensjahr stehenden James Walker, dessen gewöhnliches, aber finanziell abgesichertes Leben als Juniorpartner einer angesehenen Kanzlei, mit einer Neigung zu Edelprostituierten und einer veritablen pornografischen DVD-Sammlung, durch das plötzliche Auftauchen von Jessica, die der Protagonist seit Jahren nicht mehr gesehen hat, ins Wanken kommt. Seine Erzählung ist ein "Meisterwerk" der Metapher, ja der Autor scheint geradezu süchtig nach Vergleichen zu sein. Doch die Überstrapazierung mit selbigen ist nicht immer von Vorteil, und der Leser gewinnt zunehmend den Eindruck des eher krampfhaften Bemühens. So finden sich zwar immer wieder gute Einfälle wie diese: "Auf das richtige Stichwort sprudelte er einen Schwall wertvoller Informationen hervor wie ein Geysir, der unter Hochdruck Öl aus dem Boden schießen lässt" oder "Ich fühlte mich wie ein Entdecker, der sich in den Tempel eines längst vergessenen Stammes wagt". Doch wenn er praktisch ausblendbare Situationen wie eine Fahrt im Aufzug ("So sanft wie auf der Handfläche eines Riesen setzte uns der Aufzug in der obersten Etage ab.") oder das Schließen einer Tür ("Ich zog die Tür hinter uns zu und hörte das beruhigende Klicken, als sie ins Schloss fiel und meine Berufswelt im Inneren des Hauses einsperrte wie den Leichnam eines Tyrannen in einem riesigen Grabmal aus Stein.") derart mystifiziert, wirkt es eher ärgerlich oder gar lächerlich: "Die Antwort lies er vor meiner Nase baumeln wie ein Stück Fleisch über der Schnauze eines ausgehungerten Hundes." oder "… mich vor den Zuneigungsbekundungen meiner Mitstudenten zu flüchten wie vor den damenbartstoppeligen Küssen einer altjüngferlichen Tante." Und derer Unsinnigkeiten gibt es noch extrem viele, so dass der Leser es als geradezu störend empfindet. Stourton appliziert zwar exorbitanten Aufwand in die Beschreibung von Gegenständlichkeiten, äußerlicher Charakteristika und Nebenschauplätze, aber dies ist der eigentlichen Handlung und vor allem der Profilierung der Protagonisten nicht dienlich. Er hätte gut daran getan, dem Ich-Erzähler James Walker ein sich entwickelndes literarisches Profil zuzuweisen. Dies alles auf wenige Seiten am Schluss zu konzentrieren, wirkt bemüht und vermittelt ein an den Haaren herbeigezogenes Finitum. "Im Grunde sind die Einzelheiten einer menschlichen Biographie ab einem gewissen Alter sowieso ohne Bedeutung ... Viel wichtiger ist es, die Natur des Betreffenden zu verstehen", sinniert der Protagonist zu Beginn des Buches. Gerade dieses Verständnis versucht Stourton mühsam und teils recht konstruiert auf 400 Seiten herauszubilden, was ihm aber nicht durchgängig und schlüssig gelingt. Mit Karin Dufner haben "Die Nachtgänger" jedoch eine erfrischend bewegliche Übersetzerin bekommen. Fazit: Mit einem durchaus brisanten und hochaktuellen Thema - die persönliche Identifikation in der Adoleszenz, Verlorenheit, falsche Freunde und Ideale - versucht Ivo Stourton in seinem Erstlingswerk ein Achtungszeichen zu setzen. Eine schlüssige Umsetzung ist ihm jedoch nicht gelungen. Die sichtbaren Anteile des Lebenslaufes der jungen Menschen werden zu ausschweifend gezeichnet, die inneren Beweggründe jedoch nur konturiert.
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