Fjodor Lawretzki zieht es zurück in seine Heimat. Nachdem er turbulente Zeiten in Paris und Italien erlebte, möchte er sich gerne wieder zu Hause niederlassen. Ruhe und Beschaulichkeit, ja sogar russische Traditionen, sollen wieder mehr Platz in seinem Leben finden. Nach den Reisen durch die Städten bevorzugt er den Aufenthalt auf dem Land. Ein besonders verwahrlostes Landgut in seinem Besitz hat es ihm besonders angetan. Es wird wieder hergerichtet und wohn- und auch herzeigbar gemacht. Und eine neue Liebe, sehnsüchtig, verzehrend, unerfüllt, bemächtigt sich seiner. Lisa ,die junge, sehr tugendhafte Tochter seiner Cousine, hat ihm den Kopf verdreht, zumindest glaubt er das. Ob er, als weltgewandter Herr, sich den strengen Regeln des keuschen, erzkatholischen Russlands unterordnen kann, sei dahingestellt. Zudem ist er immer noch verheiratet, auch wenn diese Bindung nicht von Glück und Überschwang gesegnet ist. Im Prinzip klingt der Inhalt, der ganze Rahmen dieses im Jahr 1842 spielenden Romans wie eine leidvolle Lovestory (quasi älterer Herr verliebt sich in junge Frau). Doch dem ist nicht so. Es ist nur ein Konstrukt für den Autor, um all das zu erzählen, was ihm wohl wichtig erschien.
Turgenjew malt mit seinen Worten unglaubliche Bilder der damaligen Zeit. Auch wenn die Handlung selbst dahin weht wie ein laues Lüftlein, so merkt man, welcher Sturm der schreibenden Leidenschaft sich in den Zeilen verbergen mag. Das leidende „Ich“, charakteristisch für seine Protagonisten, wird eingebaut in eine Welt des russischen Landadels mit allem was dazu gehört. Manchmal kommt es einem vor wie eine ruhige Kamerafahrt durch die Landgüter, lauscht Gesprächen, bestaunt deren Leben zwischen russischer Tradition und dem Wunsch, am aufblühenden Wandel Europas teilzunehmen, und nimmt als Leser in gewisser Art selbst daran Teil.
Ruhig, ohne Hektik, entsteht so ein fein skizziertes, oftmals kritisch beleuchtetes Portrait der damaligen Gesellschaft. Die russische Wehmut plätschert sanft an die Ufer, ohne zu überfluten. Und selbst eine gewisse Ironie, besonders in den Dialogen, fehlt nicht, spiegelt sich gar in versteckter Kritik wider.
Ein ganz großes Lob geht an die Übersetzerin für diese sehr wundervolle Arbeit.
Meine Leseempfehlung richtet sich an alle Freunde klassischer und russischer Literatur, oder jene welche es noch werden wollen.
Das Buch selbst ist, wie immer beim Manesse Verlag, ein Fest für Haptik und Optik.
Iwan Turgenjew
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von Iwan Turgenjew
Erste Liebe
Das Adelsgut
Fantastische Erzählungen
Vorabend
Die schönsten Liebesgeschichten
Väter und Söhne
Tagebuch eines Überflüssigen
Aufzeichnungen eines Jägers
Neue Rezensionen zu Iwan Turgenjew
Wenn Tschulkatorin nur wüsste, welch Schnippchen er dem Schicksal noch schlagen wird. Irgendwas um die Dreißig hat ihm der Arzt salbungsvoll gerade mitgeteilt, dass es mit ihm bald zu Ende gehen wird. Der Landbesitzer, den keiner wirklich braucht. Der sein Auskommen hat. Alles vorbei, bevor das Leben richtig begonnen hat. Es ist Ende März im Jahr achtzehnhundertirgendwas. Tschulkatorin, der Mann ohne Vornamen, ohne Zweitnamen, in Russland immer der Name des Vaters mit einem –witsch hintendran, hat nicht mehr viel zu erwarten. Auch niemandem, dem er gegenüber Rechenschaft ablegen muss. Im engeren Sinne ein freier Mensch. Doch er ist nicht glücklich. In der Blüte des Lebens einsehen zu müssen, dass man bald verblüht, dass die Blüte nicht einmal richtig stattgefunden hat, ist hart.
Nun sitzt er da. Aber er lässt den Kopf nicht hängen. Er beginnt Tagebuch zu schreiben. Ob es eine dicke Lebensbeichte wird oder nur ein fast leeres Blatt Papier, kann er nicht wissen. Trotzdem schreibt er. Nur für sich. Wie er meint. Doch an so mancher Stelle, tritt Zorn zu Tage. Spricht er Menschen an. Sie werden ihn nicht erhören.
Tschulkatorin erinnert sich an die gefühlskalte Mutter. Und an den Tag, an dem der geliebte Vater röchelnd verstarb. Und an Lisa! Ja, sie war es. Die große Liebe seines Lebens. Unbeachtet ließ sie ihn sie im Arm halten, entschied sich für einen Anderen. Beim Tanz ließ sie ihn abweisen, entschied sich für einen Anderen. Und Tschulkatorin? Er konnte Lisa nicht vergessen. Kein noch so harter Schlag konnte ihn jemals verletzen. Er war sowieso ein Überflüssiger – in der russischen Literatur ein gern gewählter Charakter.
Schon bald entfaltet sich der Frühling in seiner ganzen Pracht. Die Vögel werden singen, die Knospen sprießen, das Leben wird zurückkehren. Nicht für Tschulkatorin. Der erste April (vielleicht wird es auch der zweite sein, doch der erste klingt für ihn natürlich viel besser) wird der Tag sein, an dem sein Schicksal besiegelt sein wird. Er wird abtreten. Wird es jemand merken? Sei’s drum. Er wird gehen, das weiß er. Draußen scheint die Sonne grell und bricht das Grau des Winters entzwei. Tschulkatorin wird aufbrechen in eine neue Zeit…
Iwan Turgenjew lässt einmal mehr einen Helden scheitern, ihn aber nicht zerbrechen. Tschulkatorin weiß, dass er gehen muss. Es ist weder Erlösung noch Angst, die ihn umtreibt. Er schreibt, um sich sein eigenes Leben vor Augen zu führen. Ob es jemals von jemand anderem gelesen wird, ist ihm gleich. Er wertet nicht, warum auch? Er war und ist ein Mensch, den es gab und gibt. Nicht mehr, nicht weniger. Dieses Tagebuch hingegen ist ein kurzweiliges Erinnerungsstück an einen Menschen, den man schnell vergisst. Aber von einem Autor, der nicht in Vergessenheit geraten darf!
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Iwan Turgenjew wurde am 09. November 1818 in Orjol (Russland) geboren.
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