Jürgen Osterhammels Buch "Verwandlung der Welt" unternimmt den Versuch, das in jüngster Zeit in der Geschichtswissenschaft diskutierte Konzept der Welt- bzw. Globalgeschichte von der Theorie akademischer Debatten in die Praxis der Geschichtsschreibung zu überführen. Dieser Versuch erfolgt am Beispiel des 19. Jahrhunderts. Jenseits nationalstaatlicher Blickverengungen und einer einseitigen Bevorzugung des Westens (Europa, USA) eröffnet Osterhammel auf 1.300 Seiten ein gewaltiges historisches Panorama des Zeitalters zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg. Alle Kontinente und Kulturkreise werden berücksichtigt, schwerpunktmäßig werden indes nur Europa, die USA, China, Japan und Indien behandelt. Rußland, Lateinamerika und das Osmanische Reich tauchen gelegentlich auf; die arabische Welt und Afrika kommen am kürzesten weg. Alle Bereiche menschlicher Existenz werden in der einen oder anderen Weise thematisiert, von der Politik- und Wirtschafts- bis hin zur Sozial- und Kulturgeschichte. Es kann sich im Folgenden nicht darum handeln, detailliert auf den Inhalt des Buches einzugehen. Vielmehr soll es hier um einige allgemeine Beobachtungen gehen, die sich während der Lektüre ergeben, und vor allem um die Frage, ob das Buch dem selbstgestellten Anspruch der "Historischen Bibliothek der Gerda-Henkel-Stiftung" gerecht wird, eine "große Leserschaft" anzusprechen.
Osterhammels enzyklopädischer Ansatz hat gravierende Nachteile. Manche Kapitel sind von stark aufzählendem Charakter und konfrontieren den Leser mit einer sehr dichten Faktenfülle, was bei der Lektüre mitunter rasch ermüdet. Über weite Strecken wirkt das Buch wie ein in Prosaform überführter Zettelkasten. Osterhammel hat sich unzweifelhaft großes Wissen angeeignet, aber müssen dem Publikum wirklich alle Lesefrüchte mitgeteilt werden? Ist wirklich alles gleichermaßen wichtig? Erweist sich die Könnerschaft eines Autors nicht auch im Auswählen und Weglassen, im Abwägen des Wichtigen und weniger Wichtigen? Müssen die Oper und der Walfang unbedingt in ein und demselben Buch behandelt werden, nur weil beide im 19. Jahrhundert eine Blüte erlebten? Einmal mehr drängt sich der Verdacht auf, daß deutsche Lektoren den Gebrauch des Rotstifts verlernt haben, vor allem wenn ihnen Manuskripte von Historikern vorliegen, die sich bereits einen Namen gemacht haben. Streichungen und Kürzungen sind dann offensichtlich nicht mehr zumutbar. Deutsche Lektoren sollten sich ihre britischen Kollegen zum Vorbild nehmen, die viel beherzter in Manuskripte eingreifen - zum Nutzen der Bücher und vor allem der Leser. Ein Buch ist kein Gemischtwarenladen und sollte deshalb nicht mit tausenderlei Dingen vollgestopft werden.
Kurzum: Das Buch ist viel zu lang und viel zu umfangreich. Es behandelt so viele Themen und Aspekte, es eröffnet so viele faszinierende Perspektiven und gibt so viele Anregungen zum Nachdenken, daß eine einmalige Lektüre gar nicht ausreicht. Wer am Ende des Buches angekommen ist, hat vergessen, was er 1.000 Seiten zuvor gelesen hat. Um es vollauf würdigen und seinen Inhalt durchdringen zu können, müßte man das Buch mindestens zweimal lesen und dabei jedes Kapitel mit dem Bleistift in der Hand durcharbeiten. Aber welcher Leser hat heutzutage genug Zeit, um ein solches Mammutwerk mehrfach zu lesen und gründlich durchzuarbeiten? Unser aller Lebens- und Lesezeit ist begrenzt. Andere Bücher wollen auch gelesen werden. Das sollten jene Historiker bedenken, die das Publikum mit "Ziegelsteinen" von mehr als 1.000 Seiten Umfang beglücken (der gleiche Hang zu Gigantomanie und ungezügelter Weitschweifigkeit ist u.a. bei H.A. Winklers "Geschichte des Westens", Wolfram Pytas "Hindenburg" oder auch den Himmler- und Goebbels-Biographien von Longerich zu beobachten).
Wie bei so vielen deutschen Historikern ist auch bei Osterhammel unklar, für welches Publikum er eigentlich schreibt. Wäre das Buch in einem Wissenschaftsverlag erschienen, würde sich diese Frage nicht stellen. Es ist aber in einem der bekanntesten deutschen Publikumsverlage erschienen. Einleitung und Nachwort geben jedoch keinerlei Hinweis auf das anvisierte Publikum. Studierende und historisch interessierte Laien dürften von den ständigen Sprüngen von Kontinent zu Kontinent und von Land zu Land bald überfordert sein. Mal geht es um das Osmanische Reich, ein paar Zeilen weiter aber um Japan und auf der nächsten Seite um die USA. Osterhammel bietet wenig ereignisgeschichtliche Kontextualisierung, setzt also ein immenses Vor- und Hintergrundwissen voraus. Für den durchschnittlichen Leser dürfte die Geschichte Lateinamerikas, Chinas oder Japans im 19. Jahrhundert jedoch eine Terra incognita sein. Wer hat hierzulande je vom Taiping-Aufstand gehört, der China um 1850 erschütterte? Wer kennt sich mit der schrittweisen Kolonisierung Indiens durch die Briten aus? Es ist schon schwierig genug, die Geschichte der europäischen Staaten und Rußlands im 19. Jahrhundert zu überblicken. Osterhammel stellt dies nicht in Rechnung. Er sah bei der Niederschrift offenbar einen universell gebildeten Leser vor sich, den es in der Realität natürlich nicht gibt. Bei der Vergegenwärtigung historischer Schauplätze in Ost und West schießt der Autor gelegentlich übers Ziel hinaus. Welchen Sinn hat es, die französische Kolonialarchitektur im vietnamesischen Hanoi zu beschreiben, die kaum ein Deutscher je mit eigenen Augen gesehen hat? Ohne Bildmaterial sind solche Beschreibungen nutzlos.
Das gesamte Buch ist nicht narrativ angelegt, sondern streng analytisch und problembezogen. Es präsentiert keine Geschichte, wenn man unter Geschichte eine Erzählung versteht, die sich durch die Einheit von Schauplatz, Zeit und Akteuren auszeichnet. Es ist ein typisches "Wissenschaftlerbuch", d.h. es holt den Leser nicht dort ab, wo er steht, sondern thront auf einem hohen Podest, zu dem der Leser sich emporzustrecken hat. Wie jedes "Wissenschaftlerbuch" behandelt auch Osterhammels Buch vieles, das allenfalls für Fachhistoriker, kaum aber für das nichtakademische Publikum von Interesse ist. Das Werden und Vergehen von Imperien, die Entstehung von Nationalstaaten, interkulturelle Transfers, Kolonialismus und Zivilisierungsmissionen, Migration, die Frontier-Problematik, das Konzept der Proto-Industrialisierung - all das sind Dinge, die innerhalb der Geschichtswissenschaft debattiert werden, aber wohl kaum von Laien. Was für das nichtakademische Publikum interessant sein könnte, darüber denken deutsche Historiker generell zu wenig nach. Periodisierungs- und Definitionsfragen, wie sie Osterhammel aufwirft (Wie ordnet man das 19. Jahrhundert in die Neuzeit ein? Was ist eine Revolution? Was ist ein Imperium? Was ist Bürgertum? usw.), vermögen Fachleute zu erregen, sind für Laien aber ohne Belang.
Fazit: Für Fachhistoriker, die das nötige Rüstzeug mitbringen, um den Inhalt des Buches angemessen verarbeiten zu können, ist Osterhammels Werk eine unerschöpfliche Fundgrube an erhellenden Einsichten und anregenden Interpretationen. Dem auf Europa spezialisierten Fachmann bietet das Buch eine großartige Erweiterung des Horizonts. Die meisten deutschen Historiker blicken noch immer zu wenig über den europäischen bzw. westlichen Tellerrand hinaus. Wer das Buch bewältigt hat, wird die Welt des 19. Jahrhunderts fortan mit anderen Augen betrachten und die zum Klischee gewordene Dichotomie vom fortschrittlichen Westen und dem rückständigen "Rest" überdenken. Ob hingegen historisch interessierte Laien Freude an diesem Buch haben, muß bezweifelt werden. Es ist eben kein "Lesebuch", kein Buch, das einen roten Faden und einen Spannungsbogen besitzt und eine in sich geschlossene Geschichte erzählt. Letztlich ist das Buch doch zu wissenschaftlich, um einen breiten Leserkreis jenseits der Fachwelt ansprechen und unterhalten zu können. Daran ändert leider auch Osterhammels angenehm einfacher und gut lesbarer Schreibstil nichts.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im März 2013 bei Amazon gepostet)