J. H. Elliott

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Spaniens Abstieg als europäische Hegemonialmacht

Es mag merkwürdig erscheinen, eine Biographie zu rezensieren, die mittlerweile 30 Jahre alt ist. Die Geschichtswissenschaft bringt wenige Werke hervor, die zu Klassikern werden und auch Jahrzehnte nach ihrer Veröffentlichung noch mit großem Gewinn gelesen werden können. Das vorliegende Buch ist ein solcher Klassiker. Der britische Historiker John Elliott (geboren 1930) gehört zu den besten Kennern der spanischen Geschichte unter den Habsburgern. Seine Biographie des Graf-Herzogs von Olivares, der von 1621 bis 1643 als Prinzipalminister die Geschicke der spanischen Monarchie lenkte, ist ein Meilenstein der historischen Spanienforschung. Seit seinem Erscheinen 1986 gilt das Buch als eine der besten Biographien, die je über einen Staatsmann der Frühen Neuzeit geschrieben wurden. Jeder Leser, der regelmäßig gute und anspruchsvolle Biographien liest, wird diesem Urteil zustimmen, nachdem er Elliotts Buch bewältigt hat. Für alle, die an der Geschichte Spaniens im 16. und 17. Jahrhundert interessiert sind, ist Elliotts Werk unverzichtbare Pflichtlektüre. Das Buch ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, was die historische Biographik zu leisten vermag. Elliotts Werk überzeugt nicht nur als Biographie eines Staatsmannes und königlichen Ministers, sondern auch als Studie über Spaniens Abstieg als europäische Hegemonialmacht. Elliott spiegelt die komplexen Vorgänge, die zu Spaniens Niedergang führten, in der politischen Laufbahn des Graf-Herzogs von Olivares. Er erreicht damit das, was eine gute Biographie leisten soll: Die Verknüpfung eines individuellen Schicksals mit der allgemeinen Geschichte.

Gaspar de Guzmán, Graf von Olivares und Herzog von San Lucar (1587-1645), seinen Zeitgenossen und der Nachwelt bekannt als der Graf-Herzog (el Conde-Duque), gehört zu den sogenannten Prinzipalministern des 17. Jahrhunderts. Er lässt sich vergleichen mit dem Herzog von Buckingham in England und den Kardinälen Richelieu und Mazarin in Frankreich. Olivares war Mentor, Vertrauter und Favorit Philipps IV. (1605-1665), der 1621 im Alter von 16 Jahren auf den Thron gelangte. Seit 1615 gehörte Olivares zum Gefolge des künftigen Königs. Nach Philipps Thronbesteigung avancierte Olivares am Hof zum Oberkämmerer und Oberstallmeister. Im Gegensatz zu seinen Hofämtern war seine Stellung als Prinzipalminister informell; es gab dafür keinen Titel. Formal gesehen war Olivares nur eines von mehreren Mitgliedern des Staatsrates. Für mehr als zwei Jahrzehnte leitete er im Auftrag des Königs die Innen- und Außenpolitik der spanischen Monarchie. An Machtfülle übertraf er den Herzog von Lerma, der unter Philipp III. (1578-1621) die Stellung des Günstlings und Prinzipalministers innegehabt hatte. Zahlreiche innen- und außenpolitische Rückschläge und Misserfolge führten dazu, dass Olivares 1643 in Ungnade fiel. Er hatte nicht nur das Vertrauen des Königs verloren, sondern sich auch den Hass der Bevölkerung zugezogen. Olivares' ambitionierte Großmachtpolitik war eine erdrückende Last für Spanien. Sie hielt den Niedergang der Monarchie nicht auf, sondern beschleunigte ihn. Olivares war auf ganzer Linie gescheitert, als er entlassen und des Hofes verwiesen wurde. Seine innenpolitischen Reformen waren im Sande verlaufen, und das militärische Engagement Spaniens in Europa war ohne greifbare Erfolge geblieben. Selten hat ein Staatsmann so viel gewollt und so wenig erreicht. Bald nach seinem Tod geriet Olivares in Vergessenheit. Von der Geschichtswissenschaft wurde er lange genauso vernachlässigt wie die gesamte Geschichte Spaniens im 17. Jahrhundert, die noch heute gemeinhin als trostlose Zeit des Verfalls und Niedergangs gilt.

Auf fast 700 Textseiten bietet Elliott ein detailreiches und fesselndes Bild der spanischen und europäischen Geschichte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, einer Zeit zahlreicher Konflikte und Kriege zwischen Staaten und konfessionellen Lagern. Als katholische Hegemonialmacht betrieb Spanien eine Außenpolitik, die nahezu den gesamten Kontinent umspannte. Westeuropa, das Deutsche Reich und Italien standen permanent im Fokus der spanischen Außenpolitik. Um ihre österreichischen Verwandten zu unterstützen, schalteten sich die spanischen Habsburger in den Dreißigjährigen Krieg ein. Olivares glich einem Jongleur, der mit zu vielen Kugeln hantiert. Die Überdehnung der spanischen Monarchie wurde ihm ebenso zum Verhängnis wie im 16. Jahrhundert Philipp II. Olivares' Leben trägt Züge einer griechischen Tragödie. Sein Scheitern erscheint beinahe zwangsläufig, kam es doch während seiner Amtszeit zu einer Zusammenballung von außenpolitischen Konflikten und innenpolitischen Krisen, die selbst einen so mächtigen und fähigen Minister wie Olivares früher oder später überfordern musste. Elliott vergleicht seinen Protagonisten mit einem Feuerwehrmann, der unablässig zwischen mehreren brennenden Häusern hin und her rennt. Je länger die Dauerkrise anhielt, desto öfter erlebte Olivares Phasen der Depression und Verzweiflung. Es war für ihn eher eine Erlösung als eine Demütigung, als er Anfang 1643 von Philipp IV. entlassen wurde, denn er war körperlich und mental ausgebrannt. Es wäre allerdings ungerecht, Olivares die Alleinschuld am Niedergang Spaniens anzulasten. Wie Elliott zeigt, drängte die gesamte politische Elite beim Regierungsantritt Philipps IV. darauf, dass Spanien außenpolitisch und militärisch wieder in die Offensive gehen müsse, um seinen Status als Hegemonialmacht zu bekräftigen und zu verteidigen. Olivares teilte das Unbehagen vieler spanischer Politiker, Heerführer und Diplomaten über die außenpolitische Zurückhaltung, die unter Philipp III. geherrscht hatte.

Die Außenpolitik und die Kriegführung nehmen deshalb so breiten Raum in der Biographie ein, weil sie am besten dokumentiert sind. Elliott hat in großem Umfang Material aus dem legendären Staatsarchiv Simancas herangezogen. Der persönliche Nachlass des Graf-Herzogs wurde Ende des 18. Jahrhunderts ein Raub der Flammen. Olivares' Innenpolitik kann daher nicht so gut rekonstruiert werden wie seine Außenpolitik. Beide Bereiche waren aber eng miteinander verflochten, wie Elliott herausarbeitet. Für Olivares waren Reformen im Innern die unabdingbare Voraussetzung für eine zupackende Außenpolitik. Spanien war eine sogenannte Kompositmonarchie. Olivares machte es sich zum Ziel, die einzelnen Teilreiche auf der Iberischen Halbinsel und in Italien enger aneinander zu binden, um alle verfügbaren menschlichen und materiellen Ressourcen für die Außenpolitik zu mobilisieren. Kastilien, das Kernland der Monarchie, sollte nicht länger allein für die ambitionierte und kostspielige Außenpolitik der spanischen Krone aufkommen. Olivares unternahm mehrere Anläufe, den Partikularismus einzuschränken und die Teilreiche der Monarchie zu integrieren. Ihm war jedoch kein Erfolg beschieden. Die Teilreiche widersetzten sich seinen Reformplänen. Das wäre zu verschmerzen gewesen, wenn Spanien nicht ab 1621 einen Krieg an mehreren Fronten aufgenommen hätte. Olivares und die politische Elite Spaniens zogen keine Lehren aus der desaströsen Bilanz Philipps II. Im Gegenteil, die Herrschaft Philipps II. wurde als Goldenes Zeitalter verklärt, zu dem Spanien zurückkehren müsse. Der Krieg gegen die abtrünnigen niederländischen Provinzen begann 1621 aufs Neue. Es folgten der Mantuanische Erbfolgekrieg und der französisch-spanische Krieg (ab 1635). Doch damit nicht genug: Im Unglücksjahr 1640 sagten sich Katalonien und das seit 1580 mit Spanien in Personalunion verbundene Portugal von Madrid los. Olivares hinterließ bei seiner Entlassung einen innen- und außenpolitischen Scherbenhaufen.

Nicht durch Untätigkeit beschleunigte Olivares Spaniens Niedergang, sondern durch Hyperaktivität. Um Spaniens Ehre und Ansehen (reputación) zu verteidigen, verstrickten Philipp IV. und seine Ratgeber die Monarchie in Kriege mit halb Europa. Wie Elliott jedoch betont, waren nicht nur politische Fehlentscheidungen für Spaniens Niedergang verantwortlich. Etliche strukturelle Faktoren wirkten gegen Olivares' Reform- und Hegemonialpolitik: Angesichts anhaltender wirtschaftlicher Stagnation auf der Iberischen Halbinsel war eine Steigerung der Steuereinnahmen kaum möglich. Seit Anfang des 17. Jahrhunderts ging der Zustrom amerikanischen Silbers zurück. Der finanzielle Spielraum der spanischen Krone wurde dadurch zusehends kleiner. Seit langem war die Monarchie chronisch überschuldet; die Schuldentilgung fraß einen Großteil der Staatseinnahmen auf. Die Finanzierung militärischer Operationen geriet zur ständigen Zitterpartie. Viele gesellschaftliche Kräfte und Interessengruppen lehnten Neuerungen und Veränderungen jeder Art kategorisch ab, vor allem eine stärkere Integration der Teilreiche. Olivares besaß keine Machtmittel, um seine Reformen zwangsweise durchzusetzen. Mit der Einsicht, dass sich die Monarchie modernisieren müsse, wenn sie als Hegemonialmacht fortbestehen wolle, standen Olivares und seine Mitstreiter weitgehend allein. Es fehlte ein breiter gesellschaftlicher Konsens, dass Reformen notwendig waren, um Spaniens imperialen Status zu bewahren. Viele Spanier verstanden nicht, warum Millionensummen für Kriege im fernen Flandern und Italien verschleudert wurden. Alle Reformpläne wurden nach Olivares' Sturz zu den Akten gelegt. Spanien dämmerte jahrzehntelang dahin, sank schließlich zum Spielball der anderen europäischen Mächte herab. Nach dem Tode Karls II., des letzten spanischen Habsburgers, übernahmen die Bourbonen ein Reich, das zu den rückständigsten Ländern Europas zählte.

Der stattliche Umfang des Buches und die epische Breite der Erzählung passen zur Karriere eines Ministers, die reich an Dramatik, an Siegen und Niederlagen war. Elliott hat mit seiner Biographie einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der Habsburger im 17. Jahrhundert vorgelegt. Auch Olivares träumte den Traum von der habsburgischen Universalmonarchie. War die außenpolitische Großwetterlage vorübergehend günstig für Spanien, dann berauschte er sich an der Vision, die Habsburger in Madrid und Wien könnten Europa eine "Pax austriaca" diktieren. Mehrfach plante Olivares waghalsige militärische und diplomatische Aktionen, um alle Gegner Spaniens mit einem Schlag niederzuwerfen. Er überschätzte durchweg die Ressourcen der beiden habsburgischen Linien. Als Studie über habsburgische Selbstüberschätzung und Realitätsblindheit bietet das Buch eine beklemmende Lektüre. Auf Biegen und Brechen wollte Olivares eine imperiale Mission fortsetzen, die sich schon unter Karl V. und Philipp II. als ruinös für Spanien erwiesen hatte. Um Geld für den Krieg aufzutreiben, nahm Olivares immer wieder Manipulationen am spanischen Finanzwesen vor, die der Wirtschaft nachhaltig schadeten. Schon lange vor seinem Sturz war Olivares so verhasst, dass er sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zu zeigen wagte. Die Besessenheit und Rücksichtslosigkeit, mit der er seine politischen Ziele verfolgte, sind in Elliotts quellennaher Darstellung meisterhaft eingefangen. Das Buch, ein Paradebeispiel für die Erzählkunst angelsächsischer Historiker, ist hervorragend lesbar. Trotz der Länge wird die Lektüre nie mühselig. Zu bedenken ist allerdings, dass es sich um eine wissenschaftliche Biographie handelt, die für Einsteiger nicht ohne weiteres geeignet ist. Bevor man Elliotts Werk zur Hand nimmt, sollte man Einführungs- und Überblicksdarstellungen zur Geschichte Spaniens unter den Habsburgern gelesen haben. 

(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Dezember 2016 bei Amazon gepostet)

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