(Die Besprechung bezieht sich auf die englische Originalversion "The Pole")
Beatriz ist Ende vierzig, gutsituiert, kultiviert, langweilig verheiratet, die Kinder sind erwachsen und aus dem Haus. In Barcelonas Kulturszene veranstaltet sie mit ein paar anderen eine kleine, aber feine Konzertreihe. Dort tritt Witold auf, der Pole mit den vielen w und z im Nachnamen. Er ist schon über siebzig, ein Bär von Mann, und hat einen Namen als Chopininterpret, der die sentimentalen Werke des Komponisten extrem nüchtern und sachlich auslegt, fast wie bei Bach. Beatriz versucht ihn beim gemeinsamen Abendessen nach dem Konzert etwas aus der Reserve zu locken, aber es gelingt nicht richtig, ob es an Witolds Charakter liegt oder an der Sprachbarriere (sein Englisch ist gut, aber für derartige Feinheiten nicht gut genug) bleibt offen. Einige Zeit später erhält Beatriz eine Nachricht von ihm - er hat einen Lehrauftrag im nahen Girona am (wenig bedeutenden) örtlichen Konservatorium angenommen. Als sie ihn dort besucht, gesteht er ihr seine hoffnungslose und brennende Liebe und schlägt ihr vor, gemeinsam nach Brasilien zu gehen.
Das lehnt Beatriz ab, aber als der Pole einen Auftritt in Sollér auf Mallorca hat, bietet sie ihm die Finca ihres Mannes als Refugium an und fährt auch selbst hin und verbringt ein paar Tage mit ihm und gestattet ihm auch, mit ihr zu schlafen. Nach Ende dieser kurzen Episode schickt sie ihn fort und sieht ihn nicht wieder.
Einige Jahre später erfährt sie von Witolds Tochter, dass er gestorben ist und ihr einen Karton hinterlassen hat, in seinem Warschauer Apartment, das schnellstmöglich ausgeräumt und verkauft werden soll. Beatriz fliegt hin, holt sich unter einigen Mühen ihren Karton und findet darin einen Satz polnischer Gedichte, die sie zu Hause übersetzen lässt und in denen Witold ihr seine Liebe in lyrischer Form erläutert. Die Gedichte erklären einiges, aber nicht alles, ein gewisses Rätsel wird bleiben ...
Ein richtiger Liebesroman also. Von einem Nobelpreisträger. Und verflixt gut gemacht. Alle Erwartungen verschoben. Brennende, leidenschaftlich verzehrende, hoffnungslose Liebe - von einem Mann. Und eine skeptische, pragmatische, zurückhaltende, verschlossene Frau, aus deren Sicht das alles erzählt wird. Die Geschichte wird referiert in unendlich nüchterner Sprache mit akribisch numerierten Absätzen in jedem Kapitel. Es ist brillant, wie subtil Coetzee die Emotionen durch die winzigen Ritzen von Beatriz' Panzer eindringen lässt. Es ist komisch, wie sachlich sie den Sex mit dem alten Mann schildert ("She helps best she can with the lovemaking" - nie habe ich eine Bettszene so knapp und unerotisch und sachlich - und doch rührend! - geschildert gefunden) - und wie es an unerwarteten Stellen intim wird, etwa wenn sie ihm die Haare (eine weiße Löwenmähne wie es für einen Künstler gehört) schneidet und die Stellen findet, wo es dünn wird. Wir bewegen uns in gebildeten Kreisen: Natürlich steht die Anspielung auf Dante und seine Beatrice im Raum - sie wird von den beiden thematisiert und ist Thema einiger der Gedichte.
Auch die sprachliche Konstellation fand ich interessant. Das Buch ist auf Englisch geschrieben, die beiden reden miteinander auf Englisch (sie flüssiger als er), sie denkt und spricht aber eigentlich in Spanisch (oder vermutlich eher Katalanisch, das wird nicht thematisiert), die Gedichte sind auf Polnisch. Ein Verhau, sollte man meinen, aber Coetzee gelingt es virtuos, das glaubwürdig und lesbar auf Englisch zusammenzuführen (inklusive der "Übersetzung" von einigen der Gedichten.
Wie es in der deutschen Übersetzung wirken mag, wenn die Dialoge zwischen Beatriz und dem Polen nochmal vom Englischen ins Deutsche übertragen werden müssen, will ich, glaube ich, gar nicht wissen. Wer immer das übersetzt hat, ist nicht zu beneiden.
Gern gelesen, es hat bei aller Distanz (vielleicht sogar deswegen), eine Saite in mir zum Schwingen gebracht. Ich habe den Verdacht, diese kleine Geschichte wird eines jener Bücher werden, von denen etwas in mir haften bleibt.