Rezension zu "Ein Jude als Exempel" von Jacques Chessex
In einer schneidigen und drängenden Sprache erzählt Chessex ein dunkles Kapitel Schweizer Zeitgeschichte.
„Ich denke an die Nachfahren der Schuldigen, die oft zitiert werden. Sie sehen ein weiteres Mal dieses Drama auftauchen, für das sie nicht verantwortlich sind. ... Wir sind weit entfernt von jenen Zeiten, auch wenn wir das Gedächtnis an das Opfer und seine Familie respektieren“, sagte der Payerner Stadtpräsident Michel Roulin anlässlich des 2009 erschienenen Romans Un juif pour l'exemple (Ein Jude als Exempel) des französischsprachigen Schweizer Autors Jacques Chessex. In Frankreich hatte sich das Büchlein mit knapp 100 Seiten bereits nach kurzer Zeit rund 40.000 Mal verkauft und wurde von der dortigen Kritik gefeiert. Im Waadtland allerdings, v.a. in der Kleinstadt Payerne, dort wo der Autor geboren ist, wo er seine Kindheit verbrachte und wo sich die Geschichte des Romans über ein abscheuliches Verbrechen abspielt, rief er heftigen Protest hervor. Seit Frühjahr 2010 liegt Ein Jude als Exempel in der ausdrucksstarken Übersetzung von Grete Osterwald auf Deutsch vor. Chessex erzählt darin von einem dunklen Kapitel der Schweizer Zeitgeschichte: der Ermordung des jüdischen Viehhändlers Arthur Bloch am 16. April 1942 in Payerne.
In jenen Tagen herrscht Hitlers Krieg in Europa, ein Krieg, der weit weg sei, wie „die meisten in Payerne” denken. Doch der Kleinstadt im „krönenden Wahrzeichen des Schweins“, die einst ihren Reichtum v.a. aus dem Handel mit Schweinefleisch und Tabak schöpfte, geht es schlecht. Die örtliche Bank macht pleite, mehrere Fabriken und Werkstätten verschwinden. Die „Krise der Dreißigerjahre dauert und tötet”. Der antisemitische Wahn der Nationalsozialisten fällt auch in der Gegend vermeintlicher Gemütlichkeit auf fruchtbaren Boden. Für den ehemaligen Pastor Philippe Lugrin ist die Ursache rasch ausgemacht: Schuld ist der Jude. Angestachelt von Lugrins antisemitischen Hasstiraden auf politischen Versammlungen der rechtsextremen Schweizer Frontenbewegung und in den Hinterstuben der Wirtshäuser entschließt sich in Payerne eine kleine Gruppe lokaler Nazis unter der Führung des Garagisten und „Möchtegern-Gauleiters” Fernand Ischi ein Exempel zu statuieren.
Am 16. April 1942 ist wieder Markttag in Payerne. Auch der 60-jährige Berner Familienvater und weithin bekannte und erfolgreiche jüdische Viehhändler Arthur Bloch reist an. Unter dem Vorwand, ihm eine prächtige Kuh verkaufen zu wollen, wird er von Ischis Truppe in einen Stall gelockt, wo er niedergeschlagen, erschossen und anschließend wie ein Stück Vieh geschlachtet wird. Die Leichenteile stopfen sie in Milchkübel und versenken diese im Neuenburgersee. Die Täter werden bald darauf gefasst und zu langen Haftstrafen verurteilt. Jene, die sich zuvor „mit wachsender Genugtuung das Maul über die Juden“ zerrissen, sind dieselben, „die später beim Prozess, Fernand Ischi und seine Bande niederbrüllen werden“. Die Tat sollte ein Geburtstagsgeschenk für den „verehrten Führer“ sein, um sich dessen Gunst vor dem erwarteten Einmarsch zu sichern, gestanden die Verurteilten.
In einer äußerst verdichteten Erzählform und auf nur wenigen Seiten gelingt Chessex, wofür andere mehrere hundert Seiten benötigten: In einer schneidigen und drängenden Sprache verknüpft er auf knappem Raum Fakten, Zeitgeschichte und Stimmungsbilder auf eine Weise, wie es nur Literatur vermag. Er entwirft ein perspektivisches Panorama des geistigen Klimas seiner Heimat zu jener Zeit und rührt damit nicht nur an einem historischen Trauma der Region, sondern verleiht einem persönlichen Bedürfnis Ausdruck, das auf seine Kindheit zurückgeht. Chessex war damals acht Jahre alt. Er kannte die Leute, saß u.a. in der Schule neben der ältesten Tochter von Ischi, hörte die „Nazilieder, die Hitlerrufe, die Fanfaren der Wehrmacht”, die aus den tönenden Lautsprechern den Marktflecken beschallten. Der Autor macht keinen Hehl aus dem autobiografisch geprägten Ich-Erzähler, der manchmal „mitten in der Nacht geplagt und verletzt aufwacht” und dann glaubt „jenes Kind zu sein, das er damals war und das den Seinen bohrende Fragen stellte”, wo „der Mann sei, den man ganz in der Nähe ermordet und zerstückelt habe” und „ob er wiederkäme”. Am 9. Oktober 2009 ist Chessex, der u.a. 1973 für seinen Roman L’Ogre (Der Kinderfresser) als erster Nicht-Franzose mit dem renommierten Prix-Goncourt ausgezeichnet worden ist, im Alter von 75 Jahren gestorben. Das kleine Buch Ein Jude als Exempel zählt jetzt schon zu den ganz großen seines in Deutschland leider noch wenig, weil nur vereinzelt übersetzten Werks.