Rezension zu "Tokio Vice" von Jake Adelstein
Nach seinem Studium gelingt dem US-Amerikaner Jake Adelstein ein ungewöhnlicher Schritt in die Arbeitswelt: Er wird nach einem umfangreichen Aufnahmetest erster ausländischer Mitarbeiter der Yomiuri Shinbun, einer der großen japanischen Tageszeitungen. Und zwar nicht beim Englisch-sprachigen Ableger, sondern direkt im Mutterhaus. Adelstein recherchiert und schreibt auf Japanisch. Zugeteilt ist er als Polizeireporter und auch da liegt eine Premiere an: Adelstein wird als erster Ausländer zum Presseclub des Tokyo Metropolitan Police Departement zugelassen.
Sein Job als Polizeireporter läuft rund um die Uhr und kostet Einsatz in vielerlei Hinsicht: Er kümmert sich um Pressekonferenzen, bedient zwei Abgabetermine pro Tag, fährt umgehend zu Tatorten, klappert Nachbarn und Bekannte von Opfern ab und pflegt parallel dazu sein Informationsnetzwerk. Neben namenlosen Informanten kümmern sich die Polizeireporterin Japan auch um einen guten Draht zu Polizisten. Neujahrsgrüße sind eine Selbstverständlichkeit, ein bisschen Eis für die Kinder oder Blumen für die Gattin. Alles in der Hoffnung, dass man für die Yomiuri eines Tages eine exklusive Information bekommt, die die anderen erst viel später kriegen werden.
Der erste Teil des Buches beschreibt ausführlich und lebendig den Arbeitsalltag der Journalisten. Adelstein ist hartnäckig und leistet gute Arbeit. Aber der Job hat auch Schattenseiten wie viel zu wenig Schlaf und Hektik. Es gibt Arbeiten unter Zeitdruck, aber auch elendig lange Wochen, in denen Ermittlungen laufen und die einfach abgewartet werden müssen, um am Ende hoffentlich eine Story zu bekommen. Hinzu kommt immer wieder große Frustration, weil sich die Lücken in der Gesetzgebung allzu deutlich als Lücken in der Strafverfolgung fortsetzen. Menschenhandel zum Beispiel ist zu Adelsteins Yomiuri-Zeiten kaum verfolgbar, unter anderem, weil die Opfer auf Grund der Ausweisungsgesetze nicht als Zeugen fungieren können. Auch an die Yakuza ist schwer heranzukommen, weil Japan kein Zeugenschutzprogramm kennt. Für jemanden wie Adelstein, der sich intensiv in seine Stories hängt und durchaus selber zum Ermittler wird, sind solche Schlupflöcher sehr zermürbend.
Mit seiner unnachgiebigen Art und seinem unerschütterlichen Glauben an Gerechtigkeit macht sich Adelstein irgendwann allerdings mächtige Feinde. Er bekommt Wind davon, dass sich der hochrangige Yakuza Tadamasa Goto in den USA einer Organtransplantation unterzogen hat. In einem Land, in das er als bekanntes Mitglied der organisierten Kriminalität nicht einmal hätte einreisen dürfen. Monatelang recherchiert Adelstein, bis er den Fall nicht nur rekonstruieren, sondern auch beweisen kann. Das bringt ihm unerwünschten Besuch ein, der ihn vor die Wahl stellt: Sofortige Aufgabe oder sein Leben und das seiner Freunde ist in Gefahr.
Tokyo Vice ist enorm spannende Lektüre. Nicht nur, weil Jake Adelstein einen aufreibenden Job ergattert hat und viel Einblick in die japanische Gesellschaft und die Arbeit der Exekutive gewährt. Nicht nur, weil Jake Adelstein als Journalist richtig unbequem wird und sich schlussendlich mit der Yakuza anlegt. Sondern auch, weil Adelstein einen unverstellten Blick auf sich selbst preisgibt. Ein Vergleich zu Goto liegt für dessen ehemalige Geliebte nahe: „Ihr seid beide arbeits- und adrenalinsüchtige, schamlose Frauenhelden mit starker Libido. Ihr trinkt zu viel, ihr raucht zu viel, und ihr fordert Loyalität. Ihr seid großzügig zu euren Freunden und rücksichtslos zu euren Feinden. Ihr tut alles, um zu bekommen, was ihr haben wollt. Ihr seid euch sehr ähnlich. […] Es gibt zwei große Unterschiede. Sie genießen es nicht, wenn andere leiden, und sie hintergehen Ihre Freunde nicht. Das sind gewaltige Unterschiede."
Bis heute (Stand November 2014) gibt es von diesem Buch zahlreiche Übersetzungen, aber nach wie vor keine Veröffentlichung auf Japanisch (wenngleich in Adelsteins Schublade das japanische Original von Beginn an parat lag). So offen Kritik an der Yakuza zuzulassen oder indirekt die Gesetzgebung bloßzustellen, traut sich immer noch kein Verleger. Mehr als ein paar von englischen Zeitungen abgeschriebene Artikel haben die Japaner bis heute nicht lesen können. Nach Einschätzung von Adelstein wird sich das auch in der kommenden Zeit kaum ändern. Der einzige Verlag, der das Manuskript nicht postwendend abgelehnt hat, besteht für die Veröffentlichung auf einer Änderung von rund 90 Passagen. Doch so unnachgiebig, wie sich Adelstein präsentiert, dürfte es ziemlich unwahrscheinlich sein, dass er das Buch weichspülen wird. Dafür kann er einen anderen Erfolg verbuchen: Anfang 2015 werden in Tokyo die Dreharbeiten für die Verfilmung von "Tokyo Vice" beginnen.