Rezension zu "High-Rise" von James Graham Ballard
Die Perspektivfiguren geben die sozialen Schichten sowie ihre Sichtweise und ihr Streben wieder: Wilder gehört der unteren Schicht an und strebt danach, sozial aufzusteigen, was sich in seinem physischen Erklimmen des Hochhauses manifestiert. Royal steht – als Wilders direkter Gegenpart – an der Spitze der sozialen Schicht und lebt daher im Penthouseappartement auf dem Dach und versucht Wilder davon abzuhalten, das Hochhaus und damit die soziale Leiter hinaufzusteigen. Laing, der die Mittelschicht verkörpert, lebt im mittleren Teil des Hochhauses und ist zwischen den Extremen Wilders und Royals hin- und hergerissen, bis er sich schließlich in sein Appartement zurückzieht.
Das Hochhaus nimmt den Status eines Mikrokosmos ein. Die Außenwelt verliert dabei jegliche Relevanz.
Der Wissenshorizont des Erzählers ist auf die drei Perspektivfiguren Laing, Wilder und Royal beschränkt. Dabei geht der Einblick in ihre Gefühls- und Gedankenwelt mit ihrer Entwicklung verloren. Die Ver- und Entfremdung sowie die Entmenschlichung der Figuren sorgt für eine Empathie- und Mitleidslosigkeit des Lesers. Die anfangs suggerierte Möglichkeit des Einfühlens kann als eine Art falsche Spur angesehen werden, die der Leser aufsitzen könnte.
Der Roman gibt keine Enblicke in die seelischen Abgründe der Figuren, vielmehr gibt es EInblicke in die Abgründe der Gesellschaft. Jedoch ist damit nicht die eigentliche Gesellschaft gemeint, sondern vielmehr die Gesellschaft, die sich aus den Hierarchien und sozialen Schichten ergibt, die durch das Hochhaus evoziert werden. Dieses Gesellschaftsmodell richtet sich nicht nach äußeren Einflüssen. Es ist die "natürliche Ordnung des Gebäudes" (S. 11).
Die Möglichkeit des Gebäudes, diesee "naturhafte" gesellschaftliche Ordnung zu evozieren, zieht es aus einer gewissen Grundversorgung, dem Wegfallen von Obrigkeiten (Polizei oder andere Instanzen werden aus den Angelegenheiten der Bewohner gänzlich herausgehalten, der Schein nach außen hin gewahrt) und dem Prinzip der Rivalität.
Dieses Prinzip entsteht aus dem Moment, als das letzte Apartemente verkauft wird und somit die Fluktuation der Bewohner innerhalb des Gebäudes und der damit einhergehende Aufstieg innerhalb der sozialen Schichten des Gebäudes nicht mehr möglich sind. Durch das Wegfallen von Obrigkeiten entsteht der Schein der absoluten Freiheit und die gesicherte Grundversorgung sorgt für eine Art "mechanisierten Sozialstaat".
Der Roman kann also als soziales Experiment gelesen werden, in dem eine Gesellschaft agiert, die keine Vergesellschaftung kennt und die Psychodynamik eine nicht individuell biographische ist.
Dabei gibt es verschiedene spannende Punkte, wie die verschiedenen Rollen, die die männlichen und die weiblichen Figuren einnehmen und wie unterschiedlich sich die Geschlechter und ihr Umgang mit der Situation ausfallen.
Wer am Ende enttäuscht ist, dass das Duell zwischen Wilder und Royal anders ausfällt als gedacht und sich die Situation im Hochhaus nicht so auflöst, wie vermutet, fällt einer weiteren falschen Spur des Romans anheim.