1967 wurde „The War Game“ von Peter Watson mit dem Oscar als Bester Dokumentarfilm ausgezeichnet – die produzierende BBC stellt den Film allerdings 20 Jahre in den Giftschrank und strahlte ihn nicht aus. Zu deutlich war die Kritik an der britischen Regierung in Bezug auf Atomnutzung, zu heftig die Auswirkungen. „Eine fiktive Reportage über einen Atombombenangriff auf englische Städte und seine schrecklichen Auswirkungen auf die Bevölkerung“, schreibt das Lexikon das internationalen Films. Auch, wenn „2084“ ein Buch ist, entstammt er doch demselben Genre wie „The War Game“ und da mich dieser Film tief beeindruckt hat, hatte ich gehofft, das ich das Buch ähnlich gut finden werde. Leider hat das NICHT geklappt.
Wenn man sich noch wenig mit dem Thema beschäftigt hat, gibt es Buch einige plastische und drastische Beispiele, wie die Welt in 60 Jahren aussehen wird, wenn wir nicht schaffen, das Ruder noch herumzureißen. Aber manches ist dann schon redundant und in den Beispielen liegen immer wieder auch Probleme, so dass ich das Buch nicht wirklich empfehlen kann. Manches mag auch daran liegen, dass die ursprüngliche Fassung bereits 2011 erschien. Die Überarbeitung erfolgte vermutlich 2020.
James Lawrence Powell bezeichnet sein Buch als „Roman“, formal nutzt er die Interviews, die an Oral History angelehnt sind. Da fing schon an einigen Stellen das erste Problem an: Die Protagonist*innen erzählen aus ihrer Sicht und da kommen auch hin und wieder Slurs durch. Negativ aufgefallen ist mir schon die Bewertung von Migration, die durchaus rassistische Slurs beinhaltet. Nur ein Beispiel:
„2050 hatten so viele Migranten Gibraltar überschwemmt“
Wenn Menschen als Naturgewalt dargestellt werden, werden sie entmenschlicht. „Horden“ ist ein weiteres Beispiel im Buch. Das ist eine sehr übliche Taktik, um menschenverachtendes Vorgehen gegen Migrant*innen zu rechtfertigen. In „2084“ bleibt das aber einfach so stehen, ohne, dass die Haltung oder Zuverlässigkeit des Erzählenden thematisiert wird. Dazu fällt im Text das I-Wort und das E-Wort.
Es gibt noch weitere Narrative, die ich sehr problematisch finde. So wird darauf angespielt, dass Überbevölkerung Teil des Klimaproblems sei.
„Daher würde ein Bevölkerungszuwachs von zehn Prozent zu einem Sinken des Lebensstandards um zehn Prozent führen.“
Das ist aber zum einen falsch und menschenverachtend – es sind die Emissionen, die das Problem verursachen, und unsere Unfähigkeit damit umzugehen – und dazu andererseits ein beliebtes „Argument“ von Klimaverharmloser*innen. Ähnlich ist es mit der Behauptung, dass einzelne Länder nichts ausrichten könnten. So heißt es im Buch über die Niederlande:
„Im Jahr 2000 emittierten die Niederlande nur ein halbes Prozent des globalen Kohlendioxidausstoßes. Wir haben unsere Emissionen trotzdem um die Hälfte reduziert, aber im globalen Maßstab war es »een druppel op een gloeiende plaat« – ein Tropfen auf den heißen Stein, wie Sie sagen würden.“
Bei über 190 Ländern könnten das alle von sich sagen und nichts machen. Genau DAS ist ja schon seit Jahren das Problem. Deutschlands Beitrag zum jährlichen Menschen-gemachten CO₂-Ausstoß beträgt laut Umweltbundesamt "nur" 1,8 Prozent. Dabei war Deutschland 2021 der siebtgrößte CO₂-Emittent weltweit. Wer soll denn dann überhaupt anfangen?!?
Und auch, wenn ich es gut finde, dass Faschismus aufgrund der Kllimakrise thematisiert wird, widerspricht hier Powell auch der Faschismusforschung. Ein fiktiver Interviewpartner tut nämlich so, als wäre es eine Zwangsläufigkeit, als müssten etablierte Parteien beim erstarken von faschistischen deren Positionen bei der Migrationspolitik übernehmen. Genau das Gegenteil ist der Fall.
Ich könnte noch einiges aufzählen, aber verloren hat mich das Buch dann mit seinem Ende: Powell macht die Atomkraft zu dem Allheilmittel, mit dem wir die Klimakatastrophe noch hätten verhindern können. Aber eigentlich wäre es dafür in den 2020ern schon zu spät gewesen – also findet er im Jetzt schon alles zu spät. Cool, danke für den Abgesang. Aber dann gucken wir uns die Atomkraft doch nochmal genauer an: So wird im Buch behauptet, dass es die billigste Form der Energieerzeugung wäre, nö, ist es schon länger nicht. Der Bau von Atomkraftwerken dauert lange und ist so teuer, dass sogar die chinesischen Investoren aus einem Bau in Großbritannien ausgestiegen sind. Auch Frankreich steht für Powell als „gutes“ Beispiel. Dabei wird, obwohl das Buch 2020 aktualisiert wurde, überhaupt nicht darauf eingegangen, dass die französischen Atomkraftwerke in den vergangenen Jahren massive Probleme mit der Kühlung hatten. Denn aufgrund der Erderhitzung führen die Flüsse immer weniger Wasser, die Kühlung ist in Gefahr – und die Atomkraftwerke mussten abgeschaltet werden. Auch wird der massive Zubau von erneuerbaren Energien ignoriert, ein ominöses Bild von Dunkelflaute aufgebaut und die Entwicklung von Speicherkapazitäten, die diese abfangen, ebenfalls ausgespart (Stichwort Solarthermie und neue Batteriesysteme). Aber wenn man sich auf Atomkraftwerke eingeschossen hat, sieht man das alles vermutlich nicht mehr. Erst recht nicht, dass im Buch mehrere Atomkriege geschildert werden, aber die Gefahr der Atomenergie nur anhand der Opferzahlen bisheriger Unglücke berechnet wird.
In den allerletzten Zeilen der Interviews liegt allerdings wieder eine tiefe Wahrheit: Warum fordern die Menschen nicht endlich den Erhalt ihrer Lebensgrundlagen von der Politik massiv ein?
Fazit: Eigentlich war ich beim Lesen die meiste Zeit bei 2,5 Sternen, nach dem Schluss kann ich das Buch nicht empfehlen. Ich vergebe 2 von 5 Sternen, einen davon, weil die Beispiele zum Teil wirklich sehr anschaulich sind.