Der biographische Roman über den “Schwarzen Mozart”, über Joseph Boulogne, Chevalier de Saint George, beginnt und endet auf seinem Ster-bebett. Der Ich-Erzähler lässt sein reiches und wildes Leben Revue pas-sieren. Sein Erzählfluss wird immer wieder durch Einsprengel momentaner Erinnerungen und Reflexionen über den Sinn des Lebens und die Endgültig-keit des Sterbens unter-brochen. Das finde ich nicht störend, sondern eher wie eine kleine Rast in seinem rastlosen Leben: Das macht den Text leben-diger und glaubwürdiger.
“Ich war ein Schwarzer, ein Bastard, und doch kannte ich Haydn und Haydn kannte mich, Mozart hat mich besucht, mit Gluck war ich befreundet. Viele haben mich vergessen. Was habe ich getan, dass ich aus dem Blickfeld geraten bin. Man hat mir zugejubelt, mich bewundert. Nun heißt es Abschied nehmen, von der Unsterblichkeit und warten auf den Tod. Alles überdenken, die bedeutenden und die unbedeutenden Geschehnisse und Dinge.“
Der ganze Erzählstil ist von Musik durchwoben und die historischen Ereignis-se liefern den Hintergrund zu diesem virtuos mit allen Instrumenten der Er-zählkunst verfassten Roman.
Die Lektüre ist ein anregendes Vergnügen nicht nur für Musikliebhaber, son-dern auch für Freunde der Fecht- und Reitkunst, für Frauenliebhaber, für Möchtegernverführer. Freundschaft und Liebe, pompöser adliger Lebensstil, dramatische Ereignisse, das Hinundher-Gerissenseins eines Mannes, der anders ist als die Anderen – all das findet Raum.
Für politisch Interessierte sind die französische Revolution und der Sklaven-handel Ansatzpunkte, werden politische und gesellschaftliche An- und Ein-sichten aufgezeigt, die heute noch so wirksam und aktuell sind wie damals, vielleicht ein bisschen subtiler verkleidet durch andere Sprachregelungen. Aber damals wie heute geht es um die Superiorität des weißen Menschen.
Joseph wird als Mischling, als Mulatte auf der karibischen Insel Guadeloupe geboren. Sein Vater, ein Edelmann und Plantagenbesitzer mit Latifundien in Frankreich, seine Mutter eine befreite Sklavin aus dem Senegal. Er hatte eine glückliche, paradiesische Kindheit, liebevoll geprägt und umsorgt vom Vater, von der Mutter und Anna, seinem Kindermädchen. Für die Sklaven der Ländereien, die von seinem Vater bezahlt wurden, die eigenen Gärten besaßen und denen keine Prügel drohte, war Joseph ein Talismann gegen das Unglück. Seine Mutter war für sie die personifizierte Maria.
Die offizielle weiße Ehefrau, Elisabeth Mérican, die sein Vater wegen ihrer großen Mitgift geheiratet hatte wie es damals und auch heute noch nicht unüblich war, schien dem Jungen hochmütig, mit scharfer Stimme. Erst später erfuhr er, dass sie sich einsam und fremd auf der Insel fühlte und seiner Mutter eine gute Freundin wurde.
In seiner frühen Jugend siedelten Vater und Mutter mit ihm und Anna und seiner Ehefrau nach Frankreich, nach Paris über. Der Vater war Kammerherr Ludwig des XV. Joseph selbst wurde bereits mit 18 Jahren Oberstallmeister: Chevalier de Saint-George. Er wurde ein kaum zu besiegender Fechtmeister, er war ein Reiter mit akrobatischen Finessen und ein talentierter Musiker. Der Geige spielte und der komponierte.
Bereits mit 16 Jahren wurde er von seinem Vater in das elitäre Etablissement der Madame Jonquiere eingeführt. Hier trafen sich die adligen Herren, Musiker, Literaten, Diplomaten, Würdenträger des Hofes, Glücksritter und die schönsten Frauen der Stadt.
Hier lernte er seine große Liebe, Elisabeth, kennen, eine uneheliche Tochter des Königs, eine Sängerin, deren warme Altstimme so gar nicht zu ihrer Blondheit passte. Sie stellte ihm eine überraschende Frage: wie er es finde, schwarz zu sein. Ein Einzelgänger, wie ein verkleidetes Tier, wie der Mann mit drei Köpfen vom Jahrmarkt. Die Abneigung dem schwarzen Menschen gegenüber war nicht nur ein Zeichen der Überheblichkeit und Unwissenheit, sondern hatte auch einen christlich geprägten Hintergrund. Die Unschuld ist weiß, der Teufel ist schwarz. Das sieht man z.B. auch im spanischen Stierkampf: der schwarze Stier als das zu besiegende Böse durch den Torero in seinem hell glänzenden Traje de luz.
Elisabeth und Joseph wurden ein Paar und waren allein rein optisch ein auffälliges Paar: blond und schwarz, beide hochgewachsen. Doch das Glück währte nicht lange: Elisabeth bekam beim Üben ihrer Arien immer öfter immer weniger Luft: Schwindsucht.. Sie gehörte auch nach ihrem Tod weiter zu seinem Leben: ihr Duft, ihr Timbre, ihre Stimme, ihre scharfe Intelligenz und ihre Ironie waren ihm immer präsent.
Nach ihrem Tod wurde Joseph von Rachegedanken überflutet. Sein Vater hatte ihm die Geschichte seiner Mutter erzählt . Sie sei tagelang vor aller Augen vergewaltigt worden, geschlagen und erniedrigt und sie träume jede Nacht für ihr ganzes Leben von Rache.
Rache an den teuflischen Seemännern, die seinerzeit seine Mutter und die anderen schwarzen Frauen während der Überfahrt im Schiffsbauch verge-waltigt, geschlagen und getreten hatten. Durch eine Einladung zum Fechten nach England nahm er die Gelegenheit wahr, sich über die Royal African Company nach dem Kapitän und dem Steuermann des Schiffes “The Good Shepherd” zu informieren. Und er rächte seine Mutter Nanon und all die anderen misshandelten Frauen – Auge um Auge, Zahn um Zahn. Der dritte Täter, Junot Bataille, ironischerweise auch er ein Mulatte, wurde später zu einem guten Freund und Kampfgefährten.
Joseph widmete sich wieder der Musik, er zwang sich zu Disziplin, zu einer Kammeroper, ohne Götter, ohne bukolischen Schnickschnack. Er schrieb Quartette und wurde gefeiert. Er leitete Orchester und wurde gefeiert. Und doch, so empfand er selbst, gehörte er nicht in diese kalte Welt der Regeln, spiegelten die Melodien, Töne, Rhythmen und Klangbilder in seinem Kopf und auf dem Notenblatt nicht seine wirkliche innere Heimat wider.
Der Auftritt des Wundergeigers Antonio Lolli stachelte ihn an, sich ganz der Musik zu widmen. Lollis Auftritte waren ein Pläsier für sich: er schmeichelte, bebte, hackte, kratzte, schleppend und nölig, die Finger so schnell, dass sie kaum sichtbar waren, lyrische ruhige Passagen als zwitscherten Vögel, dann ein derber Bauerntanz. Ein Teufelsgeiger wie Paganini, wie David Garrett oder Nemanja Radulovic.
Das musikalische Erleben Josephs veränderte sich radikal durch die Premiere von Glucks “Iphigenie auf Aulis” und “Orpheus und Eurydike”. Das persönliche Kennenlernen von Gluck führte zu einer Freundschaft. Er selbst schrieb eine neue Oper: “ La fille garcon”. Ein berauschender Erfolg, Vergleiche mit Gluck. Aber da war sie wieder: die latent rassistische Nuance: In der Kritik eines dünkelhaften Mannes hieß es, ihm mangele es an Kreativität, die Natur habe ihm gewaltige Anlagen mitgegeben, um alle Künste nachzuäffen, aber sich geweigert, Gefühl und Genialität beizusteuern.
Joseph regte die Gründung der “Societe des amis des noirs” an: Schwarze, Mulatten, Mestizen, Inder. Um Sklaven freizukaufen. Und ihnen zu ihren Rechten zu verhelfen. Zu einem würdigen Leben. Immer wieder unterbrochen von anderen Plänen und Ideen: ein rein schwarzes Orchester, ein Orchester nur mit Freimaurern, eine Oper mit nur ein oder zwei weißen Sängern.
Die Französische Revolution war auch in seinem Leben eine Zäsur. Er brach mit einer kleinen schwarzen Kampfgruppe von 37 Freiwilligen brach in die Karibik auf. Das berührende Wiedersehen mit der Mutter. Nach der Rückkehr kämpfte er für die Republik und wollte nach dem Inferno der Schlacht- und Leichenfelder nur noch Musik machen: eine Sklavenoper, den Gegensatz zwischen hassen, zerstören und töten, nachdenken, schaffen und phantasieren hörbar machen.
Hass auf die Revolutionsregierung, Robespierre und Demoulins ließen Köpfe rollen. Leichen über Leichen. Ein Winter der Hungersnot und extremer Kälte, Wolfsrudel fielen Menschen an. Im Frühjahr bracht Joseph mit seiner Truppe erneut in die Karibik auf. Die Sklaverei war zwar 1794 offiziell abgeschafft worden, aber natürlich weigerten sich die Plantagenbesitzer und Großgrund-besitzer, die neuen Realitäten zu akzeptieren.
Seine Mutter war tot, sein Geburtshaus nur noch eine verwüstete Ruine, die Schönheit des Paradieses war zerstört, die Welt der Kindheit untergegangen.
Während der Kämpfe auf Saint-Domingue wurde er durch ein Rapier an der Wade verletzt. Der Wundbrand setzte ein und nun lag er in seiner Kammer in Paris und verweste. Nur zwei gute alte Freunde kamen regelmäßig zu Besuch. Ansonsten Einsamkeit und die Frage aller Sterbenden: habe ich mein Leben richtig gelebt? War ich zu eitel, wollte ich zu sehr glänzen, als Schwarzer unter Weißen? Wollte ich sie bloß stellen mit ihren dummen Sätzen wie “Schwarze haben ein kleineres Hirn als Weiße”?
Ist das der Preis der Menschen, die anders sind als die Masse, die Mehrheit? Dass sie oft ein Leben leben, dass sie so vielleicht gar nicht wollten? Dass sie sich und den Anderen immer beweisen müssen, wie gut, wie schnell, wie intelligent sie sind?
Mulders Roman bringt uns auf spannende Weise Glanz und Elend einer vergangenen Epoche näher und lässt die Fragen durchschimmern: was hat sich eigentlich geändert? Es gibt immer noch (oder wieder) Rassisten und oberflächliche engstirnige dünkelhafte Menschen.
Das ist eine Essenz des Buches für mich. Die andere ist, dass ich mir demnächst eine CD von Joseph Boulognes Musik besorgen werde, um ihn in seinen Klängen vielleicht zu begegnen.
PS.: Es ware kein schlechter “Coup” des Verlages gewesen, eine CD mit vielleicht nur einem Stück beizulegen.