Rezension zu "Lotte meine Lotte" von Johann Wolfgang von Goethe
Ein literarisches Hohelied der Liebe und doch kaum gelesen: Goethes öäöäBriefe an Charlotte von Stein zwischen 1776 und 1786. Am Anfang steht eine Silhouette, ein Schattenriss, den Goethe von der Baronesse, Hofdame und Freundin der Herzogin Anna Amalia sah. Am 11. November 1775, soeben am Weimarer Musenhof eingetroffen, trifft der 26-jährige berühmte Autor des Werther auf die sieben Jahre ältere Charlotte von Stein – verheiratet mit dem herzoglichen Stallmeister. Die Sprache der Liebe in unendlichen Variationen wird neu erfunden, auf über 1700 »Zettelgen«. Billette, Botschaften, Beteuerungen lesen wir, die von einer für Goethe wohl unvergleichlichen Liebe erzählen, die zugleich doch nichts ist ohne Sprache, seine Sprache – »immer frisch auf Traumglück auszugehen« [1].
Nahezu täglich, oft auch mehrmals am Tag, schrieb Goethe Briefe an Charlotte von Stein. Im ersten halben Jahr sprachen sie sich mit Sie an. Am 5.7.1776 ging er unvermittelt zum vertrauteren Du über [2]. Der Leser erfährt nicht, was geschehen war. Sie unternahmen Spaziergänge, ritten aus oder nahmen gemeinsam Mahlzeiten ein. Sie war die Ältere und Erfahrenere und führte den jungen ungestümen Goethe in die Sitten und Gebräuche und in die Etikette bei Hofe ein. Sie tauschten sich aus über ihre dortigen Pflichten und Erlebnisse. Goethe musste häufig dem Herzog Carl August, der von ihm völlig fasziniert war, zur Verfügung stehen und war ein gefragter Aufsteiger in Weimar. Er ging allein oder mit dem Herzog auf Reisen und teilte Charlotte seine Trennungschmerzen mit. Wenn nötig ging die Post mit berittenem Kurier nach Weimar. Er schilderte ihr seine Gefühle "Täglich werd ich mehr dein eigen, behalte mich so und bleibe mein [3], er schickte Früchte "Die Pfirsichen sollen Dich begrüsen, und ihr guter Geschmack dich erinnern, Daß ich dich liebe." [4] und er wirft gelegentlich auch einen Blick in die Zukunft "Dir lebe ich meine Lotte, dir sind alle meine Stunden zugezählt, und du bleibst mir, das fühle ich" [5].
Öfters hatte er "ein groses Verlangen zu wissen wie sie geschlafen hat" [6] und manchmal wurden Bemerkungen über Gesundheit und Wohlbefinden ausgetauscht. "Mein gestriger Ausgang hat mir einen Zahnfluß und dicken Backen zuwege gebracht, man sieht, daß allerley im Cörper stickt das nicht weis wohin es sich resolviren soll" [7]. Goethe zeigte sich sogar eifersüchtig und klagte, es sei "nicht ganz hübsch" von ihr, dass Sie sich "vom Herrn Vetter die Cour machen" [8] liesse. Häufiger schrieb er ihr Gedichte. Er fühlte sich Charlotte von Stein mit starken Gefühlen verbunden. "Diese Nacht habe ich von dir geträumt und wie ich aufwache vermisse ich dich. Ich wende meine Gedancken auf alle Gegenstände und sie kehren immer wieder zu dir. Mein ganzes Wesen ist an dich geknüpft und ich fühle es ist unmöglich dich zu entbehren" [9]. Der letzte Brief datierte auf den 2.9.1786. Er teilte ihr mit "ich will fort und sage auch dir noch einmal Adieu! Lebe wohl du süßes Herz! ich bin dein" [10]. Am nächsten Tag machte sich Goethe aus dem Staube. Er brach in Karlsbad früh morgens um 3 Uhr inkognito und bestens vorbereitet auf zu seiner berühmten Reise nach Italien, die ihn in noch größere Höhen katapultieren sollte. Weder der Herzog noch Charlotte von Stein waren eingeweiht [11].
Kommentar und Bewertung:
Man muss schon extremes Interesse an Goethes Leben und an dieser merkwürdigen Beziehung aufbringen, um seine Briefe an Charlotte von Stein in zwei Bänden zu lesen. Mir gelang dies nur häppchenweise als Bettlektüre über etliche Monate hinweg. Diese Briefe sind natürlich ohne Frage eine wichtige Primärquelle zum erstaunlichen Verhältnis, das die beiden miteinander unterhielten. Da wurde und wird ja immer noch viel spekuliert. Nachdem ich alles gelesen hatte, war ich einem Verständnis aber nicht viel näher gekommen. Wahrscheinlich kann man sich heute auch gar nicht mehr in die speziellen Umstände dieser Zeit ausreichend tief hineindenken. Unter welchen Bedingungen wäre eine Scheidung und eine neue Verbindung möglich gewesen? Verfügte Charlotte von Stein nach strenger Erziehung, nach vielen Ehejahren mit immerhin sieben Geburten, von welchen zu der Zeit nur noch drei Kinder lebten [11], überhaupt noch über irgendeine sexuelle Sensorik? Oder war eher das Ziel, an der Seite eines genialen Künstlers dessen Brillanz und Ideenreichtum zu fördern und zu geniessen und ihre Energien in höheren Sphären zu sublimieren. Man spürt beim Lesen jedenfalls tiefe Zuneigung und echtes Verständnis zwischen den beiden. Sie scheinen Seelenverwandte zu sein. Goethes Intentionen sind womöglich noch schwerer zu begreifen. Er fand erst spät seinen nicht-standesgemäßen "Bettschatz" Christiane Vulpius, die ihm aber erst das Leben retten musste, um von ihm endlich geheiratet zu werden. Nach der Schlacht von Jena hatte sie marodierenden Soldaten, die versuchten ins Haus einzudringen, beherzt eine Bratpfanne übergezogen [11]. Ein solches Kaliber war die kultivierte und zartbesaitete Hofdame und Freifrau Charlotte von Stein nicht. Eine andere interessante Hypothese stammt von dem Amerikaner Kurt R. Eissler [12]. der behauptet, Goethe hätte bei Charlotte von Stein eine frühe Form der Psychoanalyse absolviert. Das wäre weit vor deren Erfindung durch Sigmund Freud gewesen. Ich habe in Goethes Briefen dafür allerdings keine besonderen Indizien finden können.
Fazit: Die Ausgabe der Briefe von Goethe an Charlotte von Stein von der Anderen Bibliothek im Doppelschuber ist wunderschön und rechtfertigt allein schon den Kauf, selbst wenn man die Bücher gar nicht lesen möchte. Es ist etwas für Bibliophile. Man könnte auch nur gelegentlich einen Blick hinein werfen und einen kleinen Brief lesen. Die Bände sind interessant, aber wegen einer gewissen Eintönigkeit möchte ich dieses Buch nicht zu hoch bewerten und vergebe drei Sterne.
Ausgabe: Lotte meine Lotte. Die Briefe von Goethe an Charlotte von Stein Die Andere Bibliothek Band 360, Berlin, 2014, In zwei Bänden, mit einer Kommentierung und einem Nachwort bereichert von Jan Röhnert
Limitierte Ausgabe, Doppelband im aufwändig gestalteten und bedruckten Schuber mit Stanzungen, Einband aus hochwertigem, mit Aluminiumfolie in Spektralfarben geprägtem Naturpapier, Fadenheftung, Lesebändchen, Buchgestalter: Jonas Vogler (gelesen Februar - Juli 2016)
Autor: Johann Wolfgang v. Goethe 1749 - 1832
Referenzen:
[1] Verlagsangabe
[2] Band I Seite30
[3] Band I Seite 280
[4] Band I Seite 284
[5] Band I Seite 423
[6] Band I Seite 267
[7] Band II Seite 488
[8] Band I Seite 196
[9] Band II Seite 409
[10] Band II Seite 643
[11] Rüdiger Safranski: Goethe - Kunstwerk des Lebens, Carl Hanser Verlag München 2013
[12] Kurt R. Eissler: Goethe. Eine psychoanalytische Studie. Zwei Bände. Stroemfeld/Roter Stern Basel 1983