Cover des Buches Franzosenliebchen (ISBN: 9783894256050)
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Rezension zu Franzosenliebchen von Jan Zweyer

Krieg im Frieden

von Stefan83 vor 8 Jahren

Rezension

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Stefan83vor 8 Jahren
Ganz ehrlich: Ohne die ausdrückliche Empfehlung meines Booknerds-Kollegen Jochen König wäre Jan Zweyers „Franzosenliebchen“ wohl unter meinem Radar geflogen, was weniger an dem Inhalt oder dem Titel liegt, als vielmehr an der (etwas beschämenden) Tatsache, dass ich den Grafit-Verlag – vor allem aufgrund seines Schwerpunkts auf Regio-Krimis – zumeist nicht in dem Maße auf den Schirm habe. Umso mehr bin ich Jochen deshalb zum Dank verpflichtet, gehört der Auftakt der so genannten „Goldstein“-Trilogie mit Sicherheit zu den Höhepunkten meines vergangenen Lesejahres, wenngleich das unter der Bezeichnung „historischer Kriminalroman“ beworbene Buch in erster Linie auf geschichtlicher Ebene zu punkten weiß und einen Großteil der Suspense eher aus den damaligen Ereignissen bezieht – und weniger aus einem sich in die Höhe schraubenden Spannungsbogen. Zweyer, der selbst seit Jahren in Herne lebt, nimmt zwar auf die regionalen Begebenheiten Bezug, verbaut damit aber auch Nicht-Westfalen nicht den Zugang zu der Lektüre. Und wählt dabei eine Thematik, die, obwohl mitentscheidend für die spätere Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, in der breiten Bevölkerung von heute doch etwas in Vergessenheit geraten ist.

Kurz zur Handlung: Januar 1923. Französische und belgische Truppen besetzen zunächst Essen und dann große Teile des Ruhrgebiets, um die rückständigen Reparationen und Sachleistungen (vor allem Kohlelieferungen) einzutreiben, zu denen sich die Weimarer Republik etwa vier Jahre zuvor durch den Versailler Vertrag verpflichtet hat. In der Folge kommt es, aufgerufen durch die Regierung in Berlin, zu einem weitreichenden passiven Widerstand seitens der deutschen Bevölkerung. Die Bergleute in den Zechen streiken, Flugblätter rufen zu Sabotageaktionen gegen die Besatzer auf und deutschnationale Untergrundbewegungen rechnen gnadenlos mit so genannten Verrätern ab. In dieser aufgeheizten Stimmung wird die junge Agnes Treppmann, Dienstmädchen bei dem reichen jüdischen Kaufhausbesitzer Abraham Schafenbrinck, spät abends auf dem Heimweg ermordet. Die deutsche Polizei beginnt zu ermitteln, bekommt den Fall aber sogleich entzogen, da eine am Tatort gefundene Koppel zwei französische Soldaten belastet, die zum besagten Zeitpunkt in der Gegend Dienst taten. Der französischen Militärgerichtsbarkeit unterstellt, werden beide Soldaten nach einem kurzen und oberflächlichen Prozess freigesprochen. Und Agnes Treppmann für alle militanten Aktivisten damit zur Märtyrerin.

In der obersten Polizeibehörde von Berlin sieht man in dem Urteil der Franzosen nun eine Chance, deren politische Rolle als Besatzungsmacht zu untergraben. Peter Goldstein, ein junger Kriminalassistent, wird inkognito ins Ruhrgebiet gesandt, um im Geheimen Nachforschungen im Fall Treppmann anzustellen und belastendes Beweismaterial zu sammeln. Goldstein, der finanziell am Existenzminimum lebt und wie viele andere unter der fortschreitenden Inflation leidet, nimmt den Auftrag nur wegen einer in Aussicht gestellten Beförderung und mit wenig Begeisterung an, da ihn bei einer Enttarnung eine Verurteilung als Spion und damit die Hinrichtung droht. Gegen alle Widerstände schafft er es dennoch neue Indizien zu finden, die allerdings Zweifel an einer Beteiligung französischer Soldaten aufkommen lassen. Ein Ergebnis, das Berlin genauso missfällt wie der örtlichen Bevölkerung, in deren Mitte immer mehr Elemente auf Rache sinnen. Kann Goldstein die Wahrheit ans Licht bringen? Und will die überhaupt jemand hören?

Vorneweg: Jan Zweyer hat in „Franzosenliebchen“ zweifellos seine Hausaufgaben sorgfältig erledigt. Der im typischen Stil eines Whodunits aufgebaute Fall ist nicht nur ausreichend verzwickt und nebulös, sondern wird am Ende auch schlüssig und mit überraschendem Element aufgelöst. Alles so weit so gut, nur – wirklich in den Vordergrund kann sich der Mord an Agnes Treppmann beim Leser nie richtig spielen, da es gerade die kleinen Details am Rande des Weges sind, welche unsere – zumeist ungeteilte – Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Zweyer versteht es hervorragend die Kulisse der 20er Jahre wiederauferstehen zu lassen und die Balance zwischen Lokalkolorit und dem größeren politischen Gesamtkontext zu halten. Für die komplette Distanz von knapp 350 Seiten tauchen wir in das Ruhrgebiet des Jahres 1923 ein, dessen Atmosphäre der Autor wirklich en detail einfängt und damit einen näheren Blick auf den Nährboden erlaubt, von dem die NSDAP nicht allzu viele Jahre später ihre „Ernte“ einholen wird. Dass der „Schandfrieden“ von Versailles letztlich bereits den Weg für Hitlers Machtergreifung geebnet und den Grundstein für den Zweiten Weltkrieg gelegt hat, wissen in heutiger Zeit wohl noch die meisten. Was der Vertrag aber im einzelnen für die Weimarer Republik bedeutet und wie er sich auf das alltägliche Leben ausgewirkt hat – davon können sich wohl heute nur noch wenige ein Bild machen.

Nach der Besetzung des Ruhrgebiets wurde dieses über Monate zum Schauplatz erbitterter Auseinandersetzungen, die von beiden Seiten in einer Art Mimikry als Fortsetzung des Ersten Weltkriegs mit anderen Mitteln geführt wurde. Der „Ruhrkampf“ als „Krieg im Frieden“ brachte die Schrecken von 1914 bis 1918 wieder in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. Und zum ersten Mal war durch die Präsenz der Besatzer der Feind auch für die zivile Bevölkerung sichtbar. Daraus resultierten vielerlei Probleme. So empfanden viele Deutsche die Okkupation als ungerecht, wohingegen Franzosen und Belgier dies als natürliche Revanche für die wenige Jahre zuvor erlittene Kriegsbesetzung durch die Deutschen verstanden. Als Folge dessen agierten sowohl Besatzer als auch Widerstandskämpfer skrupellos, wenn es in ihren Augen darum ging, das jeweilige Vaterland zu verteidigen. Kollaboration wurde auf beiden Seiten hart bestraft, was auch deutsche Frauen erfahren mussten, die sich mit französischen Soldaten einließen. Gewaltsam von den „Scherenclubs“ kahlgeschoren, wurden sie öffentlich als „Franzosenliebchen“ gebrandmarkt. Im schlimmsten Fall drohte gar die Feme.

Zweyer beweist hier ein unheimlich sicheres Händchen, wenn es darum geht, die verschiedenen Parteien zu beleuchten, ohne irgendeinem dabei die moralische Hoheit einzugestehen, was sich vor allem in der Wahl der Hauptfigur Peter Goldstein widerspiegelt. Entgegen den üblichen Sympathieträgern oder Raufbolden mit Charme, welche einem sonst in Krimis begegnen, ist er das Paradebeispiel des durchschnittlichen Opportunisten. Als Soldat vor Verdun rettete er sich aus einem mit Gas gefüllten Granattrichter, indem er auf den Kopf eines schwer verwundeten Kameraden stieg. Und nach dem Krieg war er gar ein Mitglied des am Kapp-Putsch beteiligten Freikorps. Kein Charakter also, dem man von Beginn an wohlgesonnen sein kann und will. Und das ändert sich auch im weiteren Verlauf nicht, wo er quasi vor seinen Augen einen Fememord geschehen lässt und der Rechtfertigung des Täters Saborski, er habe lediglich seine Pflicht als Soldat getan, mit Verständnis begegnet. (Dass wir Peter Goldstein und Saborski im zweiten Teil der Trilogie, „Goldfasan“, als Mitglieder der SS wiedersehen werden, ist da fast folgerichtig)

So unbequem Goldstein daherkommt, ist er doch ein glaubhafter Vertreter seiner Zeit und Bindeglied zwischen dem Leser und diesem Stück deutscher Geschichte. Eine Epoche, in der sich keine Seite mit Ruhm bekleckert hat und Weichen gestellt wurden, welche für viele Millionen Menschen in den Tod führen sollten.

Freunden von Page-Turnern und rasanten Plot-Achterbahnfahrten – sie werden hier kaum auf ihre Kosten kommen. Allen geschichtsinteressierten Lesern, die Wert auf eine gründliche Recherche und eine glaubwürdige Kulisse legen, sei „Franzosenliebchen“ jedoch unbedingt ans Herz gelegt. Ich freue mich auf die Fortsetzung und die Rückkehr ins Kohlerevier. Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt ...
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