Rezension zu "Ein untadeliger Mann" von Jane Gardam
Jane Gardam erzählt das Leben eines Mannes, der im britischen Kolonialreich in Südostasien geboren wird und über 80 Jahre später stirbt. Sein Leben ist zumindest anfangs ungewöhnlich – als Kleinkind von einer malaiischen Hausangestellten aufgezogen, später Pflegekind in Wales, diverse Internate, im Krieg auf einem Frachter unterwegs und Bewacher von Queen Mary, dann sein ganzes Berufsleben als Richter im britischen Hong Kong, anschließend Altersruhesitz Dorset. Sein Leben wird nicht chronologisch erzählt, sondern zerhackt in kleine Schnipsel in bunter Folge, die der Leser im Kopf in die richtige Reihenfolge bringen muss. Man erfährt viel über den Alltag im Vorkriegs- und Kriegs-England, wenig über sein Studium in Oxford und die Jahrzehnte in Hong Kong, dann verbringt man wieder viel Zeit mit dem 80-jährigen Rentner in England.
Warum hat mich das Buch trotz des interessanten historischen Hintergrunds wenig gefesselt und berührt? Die Hauptperson Filth ist ein kontaktarmer, gefühlloser Klotz ohne emotionales oder gedankliches Innenleben. Selbst als er Personen aus seiner Kindheit wiedertrifft, fühlt er nichts und hat ihnen nichts zu sagen. Er fügt sich sein Leben lang in sein Schicksal, er hat keine Ziele, er hat keine Persönlichkeit, er ändert sich nicht, er ist nur bekannt für seine tadellosen Umgangsformen. Warum soll ich ihn näher kennenlernen? Es gibt einfach nicht viel kennenzulernen. Auch die Nebenfiguren haben mich wenig angesprochen, mit Ausnahme einer Pflegemutter, die notorisch guter Laune war und in allem das Gute und Komische sah.
Es gibt immer wieder längere Dialoge, die alle in demselben schnoddrigen, altklugen, „über-allen-Dingen-stehenden“- Stil der britischen Oberschicht (know it all, seen it all, no emotions) geschrieben sind, egal wer spricht. Die Länge der Dialoge wäre für das Verständnis der Geschichte nicht nötig gewesen. Dasselbe gilt für die Darstellung vieler anderer Details sowie einiger Nebenfiguren.
Es gibt zahlreiche erstaunliche Zufälle – Filths größter Feind aus seiner Zeit als Richter in Hong Kong zieht in Dorset ins Nachbarhaus. Filths Frau, die in Peking geboren ist, sich in Asien zu Hause fühlt, fließend Mandarin spricht und die er in Hong Kong kennenlernt, kennt zufällig seine Cousine und seinen Jugendschwarm, weil sie alle in England gleichzeitig dieselbe Schule besucht haben. 1943 wird Filth als junger Rekrut zur Bewachung der Königin abkommandiert, mit der er sich gut versteht. Als er 80-jährig den Ort wieder aufsucht, entpuppt sich die Hotelangestellte als Enkelin der Kammerzofe der Königin, die sogar noch lebt und sich an ihn erinnert. Der chinesische Kajütengenosse seiner Schiffsreise von Irland nach Ostasien wird zufällig sein erster Klient als Rechtsanwalt in London. Bei seinem Ausflug als 80-Jähriger nach Nordengland trifft er zufällig in einem Hotelrestaurant einen Studienkollegen, der sich nach 60 Jahren noch gut an ihn erinnert und sein späteres Leben kennt. Filth nimmt alle Zufälle ohne Verwunderung zur Kenntnis.
Am Schluss wird plötzlich ein hässliches Geheimnis seiner Jugend aufgedeckt, das aber unglaubwürdig und konstruiert wirkt und keine Folgen hat.
Es fehlt die übergeordnete Fragestellung, die den Leser zum Weiterlesen motiviert. Es werden wahllos Ausschnitte seines Lebens erzählt, ohne dass klar wird warum gerade die und nicht andere. Man erfährt nicht, was den Protagonisten antreibt, man lernt ihn nicht gut genug kennen, um an seinem Leben Anteil nehmen zu wollen. Die historisch bewegenden Zeiten – Krieg, Nachkriegszeit, Dekolonisierung – gehen relativ spurlos an dem spröden Juristen vorbei.