„Im Philosophischen Institut roch es nach Klebstoff. Florian kratzte sich am Kopf. Um ihn herum standen zahlreiche blasse Studenten. Manche lehnten an den Wänden des Ganges, die Hände in den Hosentaschen, den Kopf gesenkt. Andere saßen im Schneidersitz auf dem geblümten Teppichboden und tippten auf ihre iPads."
So beginnt Florian Berg ist sterblich, und es ist schon auffällig, wie die Romanwelt gleich zu Beginn abgesteckt wird. Kein Aufbruch, nirgends. Stattdessen die übliche Uni-Studi-Topographie: Institut, Sprechstunde, Studenten, Büro-Feeling. Keine Ent-, sondern Begrenzung des Settings und des Personals. Als frage sich selbst Florian Berg, wo sein Autor ihn hineingesetzt habe, ist seine erste Romantat ein Kopfkratzen. Wenn er ahnen könnte, wie wenig aufregend die nächsten 335 Seiten für ihn (und den Leser) sein werden, hätte er vielleicht noch geseufzt oder den Kopf sinken lassen. Er wird in der Folge in eine Leipziger Studenten-WG einziehen, mit dem Mitbewohner Pizza essen, sich in seine Logiktutorin verlieben, Harry Potter lesen und sich für die Studienstiftung bewerben. In den kapitelweise zwischengeschalteten Rückblenden, in denen Florian als norddeutsches Provinzprodukt aus Wulsbüttel skizziert wird, geht es nicht weniger listenhaft zu. Eine Jugendbande wird gegründet, ein Bücherbus fährt vor, Florians Pastoreneltern streiten sich, Florian hängt Wahlplakate für „Die Grünen“ auf und ruft bei der Gemeinde an, als diese durch CDU-Plakate ersetzt werden.
Diese karge Unaufgeregtheit und dieses weltanschauliche Understatement setzt Marklein stilistisch bis in das Vokabular hinein um: Florian Berg holt sich keinen runter, nein, er wichst auch nicht, Florian Berg „onaniert“. Er hat auch keinen Schwanz, sondern einen „Penis“, und als er irgendwann endlich mit seiner Tutorin Anna schläft, liest sich das so: „Florian schob seinen Penis wieder in Annas Vagina, stieß ein paar Mal kräftig zu, dann noch ein paar Mal nicht ganz so kräftig, Annas Becken zuckte.“
Das letzte Zitat zeigt beispielhaft: Es gibt wenig Konjunktionen in diesem Roman, wenige Und-So’s, Deshalbs, Weils oder Dahers. Irgendeine Welt dreht sich, irgendwelche Menschen reden miteinander, und ab und zu, wenn Florian genug Speichel im Mund oder Luft in der Lunge hat, sagt er auch ein paar Wörter wie „Mal sehen“, „Verrückt“, „Hm“ oder „Okay“. Gefühle wie Liebe oder Angst sind diesem Protagonisten fremd; wenn er denn etwas spürt, dann Körperlichkeiten, etwa „wie die Feuchtigkeit durch seinen Hosenboden und seine Unterhose bis an seine Pobacken dr[ingt].“ Mehr ist da nicht.
Wenn dieser Florian Berg sich durch wenig mehr auszeichnet als durch sein Vorhanden-Sein, dann werden Nebensächlichkeiten zu einer geradezu aufsehenerregenden (und aufschreibwürdigen) Angelegenheit: „Florian sagte, er habe versehentlich zu viele Tomatenscheiben abgeschnitten, ob noch jemand welche wolle? Florians Vater lächelte Florian zu und sagte: »Gerne, mein Sohn.«“ Oder: „Professor Berger zog eine Pfeife aus seinem Jackett und fragte in die Runde, ob jemand Feuer habe. Tobi reichte ihm eine Packung Streichhölzer. Professor Berger zündete sich seine Pfeife an.“
So geht das in einem fort. Parallel zum Fort- und Leerlauf des inhaltlich und stilistisch Belanglosen steigt die Erwartung, dass dieser bräsige Deskriptionsstil doch in irgendetwas münden muss, dass Marklein alles in einer kühnen Volte zusammenstürzen lässt und einen narrativen Coup offenbart. Etwa wie es Alexander Schimmelbusch 2014 mit Die Murau Identität versuchte, als er cineastische Hardcore-Splatter-Szenen in seine Handlung einmontierte. Bei Florian Berg ist sterblich aber kommt nichts mehr. Janko Marklein verwehrt sich jedweder Art des Wagnisses mit einem non-chalanten „Nein, ich möchte das nicht“, um dann auf eine Art zu erzählen, als wäre er in Leipzig (Studium: Literarisches Schreiben) nie in Kontakt getreten mit dem Nervositätsstil von Rainald Goetz, den mäandernden Schleifen Thomas Bernhards oder W. G. Sebalds oder dem Schreibschulenliebling Raymond Carver. Womöglich ist gerade das radikal konsequent. Schließlich muss bei einem solch lümmeligen und lethargischen Protagonisten der erzählerische Coup ausbleiben. In dieser Fiktion hat nun einmal niemand Volten zu schlagen, weder Florian Berg noch sein Autor und schon gar nicht der Leser.
Um mal eine These zu wagen: In dem Sinne ist Florian Berg das Konterfei der westlichen, postheroischen Gesellschaft. Er ist kein Held, nicht mal mehr ein Anti-Held, der sich ja als negativer Doppelgänger an ersterem ausrichtet und dadurch an Kontur gewinnt. Florian Berg aber kennt weder Commitment noch Zuneigung, er ist kein Gewinner, auch kein Loser, und er überlässt anderen die Verwaltung seiner Umgebung und seiner selbst. Wer wissen will, wie heldenlos die deutsche Seele geworden ist, lese, wie Marklein auf aheroische (und also wagnislose) Weise davon berichtet, wie Florian Berg die Geschichten des Zauberlehrlingshelden Harry Potter liest. Das nämlich ist der state of the art der deutschen Befindlichkeit.
Diesem Befund entspricht auf anderer Ebene die liederliche Einfallslosigkeit, mit der Janko Marklein sein eigenes Leben literarisiert. Die Kurzvita am Ende des Romans lautet:
„Janko Marklein wurde 1988 in Bremen geboren. Er studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und Philosophie an der Universität Leipzig sowie der Freien Universität Berlin. Ein Auslandsstudienjahr verbrachte er in Santiago de Chile.“
Wer will, darf jetzt kurz raten, wohin Florian Bergs Auslandsemester ihn führt oder in der Nähe welcher norddeutschen Stadt Florian Bergs Kaff liegt. Wieder kassieren die postmodernen Schreiberlinge eine Absage. Keine ironischen oder semi-faktischen Verdrehungen à la Christian Kracht, die die Souveränität des Autors beweisen, kein pseudo-biographisches Abdriften ins Fiktive, wie es Felicitas Hoppe in Hoppe kürzlich vorgemacht hat, keine hyperbiographische Detailderbheit, wie sie uns Karl Ove Knausgărd vorgelegt hat. Florian Berg ist Janko Marklein ist Florian Berg.
Dieses Provinz- und Studileben Markleins bzw. Bergs wird ohne jegliche Kühnheit runtererzählt. 2013 versuchte Jan Brandt in seinem Romanerstling Gegen die Welt die deutsche Provinzjugend noch durch allerlei Schreib-Gimmicks aufzupeppen: durch den sog. „epischen Atem“ des Romans (927 Seiten), durch eine Simultanstory, die parallel zum Hauptplot über 150 Seiten im unteren Seitendrittel verläuft sowie durch typographisch abgesetzte Einschübe. Marklein will nichts dergleichen, und bis zuletzt stellt sich mir die Frage, ob der Roman deswegen wenig mehr ist als ein stilistisch bewundernswert präziser Betrug, der nichts will, der einem nichts gibt, für den man irrigerweise aber Zeit und Geld opfert. Oder er ist in seiner Poetik symptomatisch für die Jetzt-Zeit und bildet auf hervorragende Weise das Gegenwärtige ab, für das wir, die wir mittendrin stehen, bereits blind geworden sind.
Nehmen wir letzteres an: Dann hat Janko Marklein mit Florian Berg ist sterblich die feuilletonistischen Vorwürfe, die den deutschen Jungautoren gelten, zu einem literarischen Entwurf umgestülpt. Maxim Biller warf der jungen Literatur in einem Text mit dem Titel „Letzte Ausfahrt Uckermarck“ vor, „so unglaublich langweilig“ zu sein, Enno Stahl sprach davon, dass es sich um eine Literatur handele, die „sehr langweilig ist, da sie zu großen Teilen von Autorinnen und Autoren verfasst wird, die nichts erlebt und nichts zu erzählen haben.“ Und Florian Kessler antwortete auf die selbstgestellte Frage, „warum [..] die deutsche Gegenwartsliteratur so brav und konformistisch“ geworden sei, mit der Polemik, dass sie lediglich von anpassungswilligen Arzt- und Richtersöhnen verfasst werde. (Janko Marklein ist übrigens wie sein Protagonist Pastorensohn.) Markleins Antwort hierauf, brav und subversiv zugleich: Ich bin also langweilig und bieder? Zwar schreibhandwerklich hervorragend ausgebildet, bloß ohne jegliche Erfahrung, die weiter reicht als Erasmus? Ja, gut, dann bitte, voilà, ich gebe euch: Florian Berg ist sterblich.
erweiterte Fassung der Kritik auf: www.ltrtr.de