Cover des Buches Kapitalismus und Hautkrankheiten (ISBN: 9783608501216)
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Rezension zu Kapitalismus und Hautkrankheiten von Jasmin Ramadan

Eine Gesellschaftskritik

von Bella5 vor 10 Jahren

Rezension

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Bella5vor 10 Jahren


"
Teresa Kugler ist rastlos, promiskuitiv und liebt niemanden außer ihren Bruder Ture, der sich manchem Ungeziefer verbundener fühlt als jeglichen Menschen. Immer wenn Teresa sich unter Druck gesetzt fühlt oder sie diffuse Erinnerungen an die Kindheit überkommen, wird sie von einer imaginären Schleimschicht befallen. Zuflucht sucht sie bei Ture, der ihr rät, die Ursache ihrer Neurose zu ermitteln. Denn er ist sicher: Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Zerwürfnis ihrer Eltern, dem Wegzug der eng befreundeten Familie Tinn, mit denen sie in den Achtzigern eine wichtige Zeit in Nicaragua verbracht hatten, und Teresas verirrtem Dasein. Teresa beginnt, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dadurch wird nicht nur ihr Leben aufgewühlt …"

Meine Meinung:

Zuerst war ich fast ein wenig enttäuscht,
da ich dachte, Ähnliches mit einer ähnlichen Figurenkonstellation und ähnlichen Konflikten schon gelesen zu haben.
Ture & Teresa stehen im Schatten der berühmten Eltern (va der Mutter). Bärbel ist eine erfolgreiche Schauspielerin, die Ehe mit dem Mann aber eigentlich am Ende, sie liebt ihn, er zieht unters Dach, leidet an Schuppenflechte, Teresa und Ture leiden irgendwie an OCD und sind sich näher als den Eltern. Ture ist fast ein wenig autistisch und auch die Fixierung auf die Insekten ist fast ein Topos und soooo neu m.E. nicht.

Jasmin Ramadan hat aber mit ihrem gesellschaftskritischen, surrealen Roman etwas Eigenes geschaffen, das sprachlich und stilistisch einfach klasse ist. Es gibt keinerlei Längen im Roman.
Kaputte Familien, Materialismus, Sex als "Währung" und eine krankhaft auf Jugend fixierte Gesellschaft ohne Werte (dafür aber mit 'Ersatzreligionen' wie Fitneß und Vegetarianismus) prangert die Autorin an. Außerdem eine Misogynie, die Frauen zu a) Sexobjekten macht (falls sie noch jung sind) oder b) zu unsichtbaren Wesen (falls sie 'zu' alt sind). Männer fortgeschrittenen Alters gieren wie selbstverständlich nach jungen Frauen, und die jungen Frauen setzen ihre Sexualität entpersonalisiert als Mittel zum Zweck ein. Kinder verkommen zum Accessoire, und der Neoliberalismus hält auch im Privaten Einzug. Doch auch der linke, politische Aktionismus der '68-er Generation wird als Selbstzweck entlarvt, und im Alter ist von den Idealen nichts mehr geblieben, politisch korrekt werden z.B. Tiere gerettet bzw adoptiert. Menschen werden nur noch nach ihrem "Marktwert" beurteilt.

Ture und Teresa Kugler, die neurotischen Zwillinge, sind das Produkt ihrer Umwelt. Ihre Eltern Bärbel und Dietrich leben zwar noch unter einem Dach, aber nicht mehr miteinander: "Sie liebt
ihn, er ist pleite." Eigentlich hat aber Bärbel eine Höllenangst, allein zu sein.
Der Akademiker und die Schauspielerin sind trotz ihrer Zugehörigkeit zur upper class keine Vorbilder, zeichnen sich durch wenig Empathie für ihre Kinder aus. Der ehemalige Professor Kugler ist moralisch gesehen ein absoluter Versager, seine Krankheit womöglich die Manifestation von Schuld; Teresas und Tures Krankheiten eine Folge der kaputten Familienverhältnisse. Beide sind zur Mitmenschlichkeit unfähig, Teresa findet jeder schön, aber keiner mag sie wirklich, als ehemaliger Kinderstar steht sie stets im Schatten der Mutter und hat doch als Model und Werbeikone ein Auskommen.
Am Ende des Romans werden große Familengeheimnisse enthüllt, die zum totalen Zusammenbruch des Systems führen und die Züge einer griechischen Tragödie tragen ( genau weiss man es nicht, das Ende ist offen); für Bärbel scheint eine Katharsis möglich.

"Kapitalismus und Hautkrankheiten" liess mich oft an Eugène Ionescos "Nashörner" und
Michel Houellebecqs "Elementarteilchen" denken. Die Figur Ture erinnert an Houellebecqs "Michel". Ausserdem kam mir Frédéric Beigbeders "Neunundreissigneunzig" in den Sinn, als es um die Werbebranche ging.

Ramadan entlarvt manche "Glaubensinhalte" als hohle Attitüde:

"Ich esse doch gar kein Fleisch! "
"Deshalb bist du kein besserer Mensch!"

Obwohl manche Elemente für mich nicht neu waren, möchte ich Ramadans Roman zur Lektüre empfehlen, da er mich sprachlich, stilistisch & thematisch absolut überzeugt hat.
Ich vergebe 5 von 5 Sternen.
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