Rezension zu "Der Radfahrer von Tschernobyl" von Javier Sebastián
A.S.: Gibt es das eigentlich, ein Antescriptum? Doch wenn es ein P.S. - ein Postscriptum - gibt, warum nicht? Sonst erfinde ich es eben ;-) Denn: diesem Buch wollte ich zuerst nur 3 Sterne geben, weil ich einiges zu kritisieren habe. Aber: durch diese Rezension habe ich mich so in das Buch 'hineingeschrieben', dass aus den ursprünglich vorgesehenen 3 Sternen doch 4 geworden sind. Schließlich habe ich einiges erfahren und gelernt.
Eine Katastrophe, die zwar bemerkt, der aber doch nicht die nötige Aufmerksamkeit gewidmet wurde, war der Reaktorunfall von Tschernobyl im Jahre 1986. Wenn dieser Un-Ort nicht durch den Krieg in der Ukraine wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt worden wäre, würden wir uns auch heute nicht weiter dafür interessieren.
Der Schriftsteller Javier Sebastián hatte die Idee, diese Vorkommnisse, das Leben danach, vor allem das Schicksal des Kernphysikers Wassili Nesterenko in einem Roman zu verarbeiten, eine faszinierende Idee. Doch leider hapert es nach meiner Meinung ein wenig mit der Umsetzung: zu viele Erzählstränge, zu viele Zeitsprünge, so dass ich am Ende das Gefühl hatte, er habe sich verzettelt.
Ein alter Mann, Wasja, der fast vom Stuhl kippt, wird an einer Raststätte allein gelassen, so dass sich ein zufälliger Beobachter verpflichtet fühlt, sich um ihn zu kümmern. Warum Wasja zuerst fast nicht spricht und wer er ist, wird sich zeigen. An einer Stelle dachte ich: jetzt wird es spannend und dramatisch, aber leider verpuffte der angefangene Handlungsstrang im Nichts oder zumindest in der Belanglosigkeit. Dennoch muss ich zugeben, dass ich einiges gelernt habe, wenn auch nur bruchstückhaft:
Was genau im Kernkraftwerk damals passiert ist, scheint mir nicht hundertprozentig geklärt zu sein, denn es gibt verschiedene Theorien und viel Vertuschung und Geheimhaltung. Diesen Eindruck vermittelt zumindest der Roman, in den auch 'geleakte' Geheimpapiere und Berichte der WHO eingearbeitet sind, das übrigens auch so ein Bruch im Roman, der mir nicht gefallen hat.
Das Gebiet um das Kernkraftwerk und besonders die Stadt Pripyat, eine Geisterstadt, sind auf Tausende Jahre verseucht (die Halbwertzeit von Strontium und Cäsium ist unendlich lang) und dennoch gibt es Menschen, die dorthin zurückkehren - man denke nur an den Roman 'Baba Dunjas letzte Liebe'.
Nach der Katastrophe gab es sogar Plünderer, die aus der verstrahlten Zone alles wegholten, was nicht niet- und nagelfest war.
Und heute sind da diese sensationsgierigen Touristen, die geführte Fototouren in ein radioaktiv verstrahltes Gebiet machen, natürlich nur mit Genehmigung und unter Aufsicht. Dazu zwei Artikel vom MDR und dem Deutschlandfunk. Die arme Ukraine brauchte das Geld und die Touristen ließen sich gerne vor den rostigen Autoscootern im Vergnügungspark fotografieren. So ein Autoscooter kommt übrigens auch im Roman vor, ebenso wie das Riesenrad, von denen man Fotos im Internet finden kann. Hier zwei Berichte, die sich kritisch mit Tschernobyl als Touristenziel befassen:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/tourismus-in-tschernobyl-es-ist-schon-etwas-creepy-100.html
Und obwohl Pripyat schrecklich verstrahlt ist und als Geisterstadt gilt, gibt es unglaublicherweise Menschen, die dort und auch in der Umgebung leben. Sie kommen im Roman ausführlich vor und nennen sich Samosjol. Dazu gehörte zeitweise auch Wassili Nesterenko, Chefkonstrukteur und Direktor des Weißrussischen Instituts für Kernenergie, der erkannte, wie gefährlich das alles ist, welchen Schaden die Radioaktivität anrichtet und sich dafür einsetzte, alles zu tun, um den verstrahlten Menschen zu helfen. Das ist 'dem System' natürlich nicht genehm und so führten seine Aktivitäten zu Schwierigkeiten für ihn.
Aber: wundert sich noch jemand, wenn ich schreibe, dass auch hier wieder verschwiegen und vertuscht wurde und zwar in einem unglaublichen Ausmaß. Man möchte schreien und kann doch nichts tun. Doch halt! Man kann und sollte sich wenigstens informieren, damit man möglichst gut Bescheid weiß, welche Gefahr Kernenergie darstellt und wie unbeherrschbar sie möglicherweise ist.
Natürlich hat dieses Buch auch romanhafte Züge. Es ist die Rede von Menschen, die lieben und feiern, hungern und sterben und das tut der Autor in ziemlich nüchterner und distanzierter Weise. Wahrscheinlich wäre es auch anders nicht zu ertragen, vom Leid der verstrahlten Menschen zu lesen und ihre Tapferkeit zu würdigen.
So soll dieses Buch vielleicht auch eine Hommage an Wassili Nasterenko sein und an alle die Menschen, die krank geworden und gestorben sind und die vielen Hunderttausende (oder Millionen?), die auch heute noch unter den Folgen leiden.
Wir sollten es wissen!!