Cover des Buches Ich schreibe Ihnen im Dunkeln (ISBN: 9783406697180)
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Rezension zu Ich schreibe Ihnen im Dunkeln von Jean-Luc Seigle

Eine bewegend erzählte Geschichte

von seschat vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Ein berührender Roman, der auf einer wahren Geschichte basiert und selbst nach Beendigung noch lange nachwirkt.

Rezension

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seschatvor 7 Jahren
Der französische Schriftsteller und Drehbuchautor Jean-Luc Seigle hat sich in seinem Roman „Ich schreibe Ihnen im Dunkeln“ an eine in Frankreich bis heute heiß diskutierte Geschichte gewagt. Das tragische Leben bzw. Schicksal der Französin Pauline Dubuisson (1927-1963, Porträt siehe Cover) wurde sogar mit Brigitte Bardot in der Hauptrolle verfilmt. Doch dieser Film mit dem programmatischen Titel „Wahrheit“ (1960) zeigt eben nur eine Wahrheit, nämlich die der Rechtsprechung. Dort wird Paulines Leben eindimensional porträtiert und sie zur kaltblütigen „Mörderin“ degradiert. Der Autor Seigle konnte sich nicht länger mit dieser vorgefertigten Sichtweise von außen abfinden und hat deshalb dieses spezielle Buchprojekt ins Leben gerufen. Ein Projekt, bei dem der Autor versucht, die nach dem Selbstmord von Pauline verloren gegangenen Hefte und Tagebücher selbstständig und unter Zuhilfenahme von Quellen zu rekonstruieren.

„Paulines Verbrechen nimmt einen winzigen Moment in ihrem Leben ein, die Zeit, um drei Revolverkugeln zu verschießen, kaum eine Minute. Man kann sie mit dem schöpferischen Augenblick vergleichen, dem geheimnisvollen Phänomen des künstlerischen Schaffens, derselbe Taumel, dieselbe plötzliche Inspiration, dasselbe Von-sich-selbst-Fortsein, um mit Stefan Zweig zu sprechen. Doch das Verbrechen ist kein Wunder der Kreativität, es ist eine Lücke in Paulines Leben, ein Riss der sich in ihrem Dasein auftut, eine unendlich kurze verdichtete Zeit.“
(S. 10)

Pauline Dubuissons Leben enthält mehr Schatten als Licht. Sie wurde in eine schwere Zeit hineingeboren, nämlich zwischen die beiden Weltkriege. Zwei der drei Brüder fielen im Ersten Weltkrieg, woraufhin die Mutter schwer depressiv wurde. Und Pauline schaute mehr zu ihrem machtvollen Vater, einen altgedienten Offizier auf. In dieser für ihre Familie katastrophalen Zeit kümmerte sich niemand um die 15-Jährige, so dass sich das hochintelligente Mädchen menschliche Wärme bei Matrosen suchte, was ihr nicht nur den Ruf als Schlampe einbrachte, sondern auch den Schulplatz am Gymnasium kostete. Doch ihr Traum, Medizin zu studieren, war zu stark und bereits mit 16 Jahren machte sie ihr Abitur auf eigene Faust. Danach verlangte der Vater von ihr wegen des Kriegszustands und der angeschlagenen Gesundheit der Mutter erst einmal eine Ausbildung zur Krankenschwester im Heimatort zu machen. Was folgte war eine lehrreiche wie aufregende Zeit für Pauline. Weil sie sich mit ihrem Ausbilder, einen deutschen Arzt, eingelassen hatte, wurde sie kurz vor Kriegsende von Kräften der Résistance öffentlich gedemütigt. Kahlgeschoren und mehrfach missbraucht holte sie ihr Vater zurück nach Hause. Nach einer Phase der Rekonvaleszenz begann sie in Lille Medizin zu studieren; was weit weg von der Heimatstadt Malo-les-Bains lag. Hier lernte sie den jungen Medizinstudenten Félix Bailly kennen und lieben. Die Trennung im Jahr 1953 hat sie alles andere als gut verkraftet. Als sie Félix ein letztes Mal besucht, erschießt sie ihn im Affekt. Danach wird sie von der medialen Öffentlichkeit zur persona non grata erklärt, gar als neue „Messalina“ betitelt, und muss für neun Jahre hinter Gitter. Als Pauline mit 30 entlassen wird, ist sie eine andere, einsame und leere Frau. Sie beendet ihr Studium und wandert nach Essaouira (Marokko) aus. Dort nimmt sie den falschen Vornamen Andrée an und führt ein freies Leben ohne Vorwürfe. Zum ersten Mal fühlt sie sich angekommen.

„Es herrscht vollkommene Übereinstimmung zwischen dem Stein und meinem Körper, zwischen dem Mittelpunkt des Hauses und meinem Herzen, zwischen seinem Schatten und meinem Innersten – genau das Gegenteil vom Gefängnis, wo es nur Trennung gibt zwischen Mauern und Körpern.“ (S. 28)


Bis Jean in ihr Leben tritt und sie heiraten möchte. Doch als er die Wahrheit erfährt, ist alles vorbei und Pauline wieder allein. Die Konsequenz – ihr Suizid - erscheint so traurig wie folgerichtig, denn niemand liebte sie mehr…

Jean-Luc Seigles einfühlsame wie unverstellte Herangehensweise nimmt den Leser ab der ersten Zeile gefangen. Unterteilt in drei fiktive Hefte zeichnet Seigle Paulines Schicksal minutiös nach. Dabei rollt er die Geschichte von hinten auf, indem er mit Paulines marokkanischer „Exilzeit“ beginnt. Auf diese Weise taucht der Leser Seite für Seite in deren Leben ein. Ihre Entbehrungen, ihre Sehnsüchte, ihre Begierden sowie ihre dunkelsten Erfahrungen, Seigle lässt nichts unausgesprochen und ist vor allem dann am stärksten, wenn er Paulines Leid und seelische Zerrissenheit nachzeichnet. Hierbei schlüpft er täuschend echt in Paulines Rolle und agiert als Ich-Erzählerin. Dies tut er auf eindringliche, stark metaphorische und erschreckend realistische Weise. Kriege und männliche Gewalt haben Paulines Leben hart zugesetzt und letztendlich ist sie trotz ihres starken Willens daran zerbrochen.

FAZIT
Ein berührender Roman, der auf einer wahren Geschichte basiert und selbst nach Beendigung noch lange nachwirkt. Ein literarisches Meisterstück.
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