Rezension zu Die Sehnsucht des Vorlesers von Jean-Paul Didierlaurent
Kleine Helden des grauen Alltags - ein modernes Märchen...
von parden
Kurzmeinung: Ein Buch für Bücherliebhaber und ein modernes Märchen - ein Wohlfühlroman, der ein wenig Farbe ins Alltagsgrau zaubert.
Rezension
pardenvor 8 Jahren
KLEINE HELDEN DES GRAUEN ALLTAGS - EIN MODERNES MÄRCHEN...
Diese Geschichte spielt in Paris - wenn auch nicht mittendrin. Ob vor zehn Monaten, heute oder in zweieinhalb Jahren, ist auch nicht entscheidend. Viel wichtiger ist: Guylain Vignolles liebt Bücher. Unseligerweise muss er sich seinen Lebensunterhalt jedoch in einer Papierverwertungsfabrik verdienen. Aus diesem Grund hat er wohl auch diese Macke entwickelt, die ihn Tag für Tag aus der grauen Masse der Pendler herausstechen lässt: Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit liest er im 6-Uhr-27-Regionalzug laut ein paar Seiten vor, die er tags zuvor der gewaltigen Schreddermaschine entrissen hat - sein heimlicher Akt der Rebellion gegen die Vernichtung von Literatur. Sonst ist der schüchterne Maschinenführer gefangen in einem monotonen Leben. Eines Tages aber geschieht etwas, das die Dinge von Grund auf verändern wird: Direkt vor seinem orangeroten Klappsitz im Zug findet Guylain einen USB-Stick, auf dem das Tagebuch einer ganz besonderen jungen Frau namens Julie abgespeichert ist...
"Für die Passagiere im Waggon war Guylain der komische Kauz, der jeden Morgen ein paar Buchseiten aus seiner Aktentasche zog, um sie mit lauter, klarer Stimme vorzulesen. Es waren nicht die Seiten eines bestimmten Buches. Nein, die Texte hatten rein gar nichts miteinander zu tun (...) Guylain war das egal. Für ihn war der Inhalt bedeutungslos. Was zählte, war der Akt des Vorlesens. Er schenkte jedem einzelnen Blatt seine ungeteilte Aufmerksamkeit, damit das Vorlesen seine magische Wirkung entfalten konnte: Jedes Wort, das ihm über die Lippen kam, befreite ihn ein bisschen von dem Ekel, der ihn beim Gedanken an seine Arbeit überkam." (S. 14)
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des 36jährigen Guylain, der einen Beruf ausübt, der ihn unglücklich macht. Er, der Bücher liebt, trägt täglich dazu bei, dass die Bestie - die große Schreddermaschine in der Firma - tonnenweise Bücher verschlingt und zu Papierbrei zermalmt, aus dem dann neue Bücher entstehen. Guylains Ekel vor dieser Tätigkeit ist so greifbar, dass es einem selbst beim Lesen vorkommt, als ob die Bestie ein von Grausamkeit geprägtes Eigenleben führt, und die einzige Möglichkeit der Rebellion besteht für Guylain darin, der Maschine einzelne Buchseiten wieder zu entreißen.
"Gespannt schaltete Guylain seine Stirnlampe an. Tief im noch warmen Bauch der Bestie würde er gleich auf seine Diebesbeute stoßen. Sie erwartete ihn immer an derselben Stelle, der einzigen, die der Wasserstrahl aus den Düsen nicht erreichte: Ein paar Buchseiten (...) entgingen so ihrem Schicksal. Giuseppe hatte sie immer 'meine Findelkinder' genannt. 'Das sind die einzigen Überlebenden des Massakers, mein Junge', hatte er Guylain mit bewegter Stimme erklärt, als er ihm vor Jahren die Stelle gezeigt hatte." (S. 47)
Guylain fristet sein ereignisloses Dasein aus Arbeit, einsamen Abenden mit seinem Goldfisch namens Rouget de Lisle und gelegentlichen Treffen mit seinem väterlichen Freund Giuseppe. Er verlangt nicht viel vom Leben, doch eines Tages erhält das gewohnheitsmäßige Alltagsgrau einen kleinen Riss. Guylain findet in der Bahn einen USB-Stick, auf dem ihn die Begegnung mit einem ganz anderen Leben erwartet. Das Tagebuch einer Frau namens Julie gewährt Guylain Einblicke in ein fremdes Leben, und er fühlt sich bald schon hingezogen zu der Fremden, deren Welt auch nicht wesentlich ereignisreicher ist als das seine. Julie arbeitet als Toilettenfrau in einem Einkaufszentrum, doch sie schreibt über ihre Begegnungen und Beobachtungen dort, und Guylain ist fasziniert von ihren Gedanken.
"Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht schreibe - denn das wäre so, als hätte ich an dem Tag nicht wirklich gelebt und mich stattdesen nur auf die Rolle beschränkt, die die Leute mir übergestülpt haben: die Rolle eines bemitleidenswerten Geschöpfs, dessen einziger Daseinszweck es ist, ihre Hinterlassenschaften zu beseitigen." (S. 152)
Guylain ist, als sähe die fremde Schreiberin die Welt mit ähnlichen Augen wie er! Er muss diese Frau finden - doch ohne einen wirklichen Anhaltspunkt kein leichtes Unterfangen. Aber allein durch seine Suche kriecht unaufhaltsam Farbe in sein graues Dasein. Und ganz allmählich verändert sich der zurückhaltende, schüchterne, fast schon menschenscheu anmutende Guylain und entdeckt zunehmend auch schöne Seiten am Leben.
Wer außergewöhniche Geschichten und schräge Bücher mag, der ist hier richtig. Jean-Paul Didierlaurent ist es gelungen, die Figuren in diesem Roman zu kleinen Helden ihres monotonen und grauen Lebens zu machen. Trotz oft einfach anmutender Sprache gibt es nahezu poetische Passagen, und durch die Melancholie des Alltags zieht sich auch stets ein breiter Streifen Humor, der mich immer wieder lächeln ließ. Ein Buch für Bücherliebhaber und ein modernes Märchen - ein Wohlfühlroman, der ein wenig Farbe ins Alltagsgrau zaubert.
© Parden
Diese Geschichte spielt in Paris - wenn auch nicht mittendrin. Ob vor zehn Monaten, heute oder in zweieinhalb Jahren, ist auch nicht entscheidend. Viel wichtiger ist: Guylain Vignolles liebt Bücher. Unseligerweise muss er sich seinen Lebensunterhalt jedoch in einer Papierverwertungsfabrik verdienen. Aus diesem Grund hat er wohl auch diese Macke entwickelt, die ihn Tag für Tag aus der grauen Masse der Pendler herausstechen lässt: Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit liest er im 6-Uhr-27-Regionalzug laut ein paar Seiten vor, die er tags zuvor der gewaltigen Schreddermaschine entrissen hat - sein heimlicher Akt der Rebellion gegen die Vernichtung von Literatur. Sonst ist der schüchterne Maschinenführer gefangen in einem monotonen Leben. Eines Tages aber geschieht etwas, das die Dinge von Grund auf verändern wird: Direkt vor seinem orangeroten Klappsitz im Zug findet Guylain einen USB-Stick, auf dem das Tagebuch einer ganz besonderen jungen Frau namens Julie abgespeichert ist...
"Für die Passagiere im Waggon war Guylain der komische Kauz, der jeden Morgen ein paar Buchseiten aus seiner Aktentasche zog, um sie mit lauter, klarer Stimme vorzulesen. Es waren nicht die Seiten eines bestimmten Buches. Nein, die Texte hatten rein gar nichts miteinander zu tun (...) Guylain war das egal. Für ihn war der Inhalt bedeutungslos. Was zählte, war der Akt des Vorlesens. Er schenkte jedem einzelnen Blatt seine ungeteilte Aufmerksamkeit, damit das Vorlesen seine magische Wirkung entfalten konnte: Jedes Wort, das ihm über die Lippen kam, befreite ihn ein bisschen von dem Ekel, der ihn beim Gedanken an seine Arbeit überkam." (S. 14)
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des 36jährigen Guylain, der einen Beruf ausübt, der ihn unglücklich macht. Er, der Bücher liebt, trägt täglich dazu bei, dass die Bestie - die große Schreddermaschine in der Firma - tonnenweise Bücher verschlingt und zu Papierbrei zermalmt, aus dem dann neue Bücher entstehen. Guylains Ekel vor dieser Tätigkeit ist so greifbar, dass es einem selbst beim Lesen vorkommt, als ob die Bestie ein von Grausamkeit geprägtes Eigenleben führt, und die einzige Möglichkeit der Rebellion besteht für Guylain darin, der Maschine einzelne Buchseiten wieder zu entreißen.
"Gespannt schaltete Guylain seine Stirnlampe an. Tief im noch warmen Bauch der Bestie würde er gleich auf seine Diebesbeute stoßen. Sie erwartete ihn immer an derselben Stelle, der einzigen, die der Wasserstrahl aus den Düsen nicht erreichte: Ein paar Buchseiten (...) entgingen so ihrem Schicksal. Giuseppe hatte sie immer 'meine Findelkinder' genannt. 'Das sind die einzigen Überlebenden des Massakers, mein Junge', hatte er Guylain mit bewegter Stimme erklärt, als er ihm vor Jahren die Stelle gezeigt hatte." (S. 47)
Guylain fristet sein ereignisloses Dasein aus Arbeit, einsamen Abenden mit seinem Goldfisch namens Rouget de Lisle und gelegentlichen Treffen mit seinem väterlichen Freund Giuseppe. Er verlangt nicht viel vom Leben, doch eines Tages erhält das gewohnheitsmäßige Alltagsgrau einen kleinen Riss. Guylain findet in der Bahn einen USB-Stick, auf dem ihn die Begegnung mit einem ganz anderen Leben erwartet. Das Tagebuch einer Frau namens Julie gewährt Guylain Einblicke in ein fremdes Leben, und er fühlt sich bald schon hingezogen zu der Fremden, deren Welt auch nicht wesentlich ereignisreicher ist als das seine. Julie arbeitet als Toilettenfrau in einem Einkaufszentrum, doch sie schreibt über ihre Begegnungen und Beobachtungen dort, und Guylain ist fasziniert von ihren Gedanken.
"Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht schreibe - denn das wäre so, als hätte ich an dem Tag nicht wirklich gelebt und mich stattdesen nur auf die Rolle beschränkt, die die Leute mir übergestülpt haben: die Rolle eines bemitleidenswerten Geschöpfs, dessen einziger Daseinszweck es ist, ihre Hinterlassenschaften zu beseitigen." (S. 152)
Guylain ist, als sähe die fremde Schreiberin die Welt mit ähnlichen Augen wie er! Er muss diese Frau finden - doch ohne einen wirklichen Anhaltspunkt kein leichtes Unterfangen. Aber allein durch seine Suche kriecht unaufhaltsam Farbe in sein graues Dasein. Und ganz allmählich verändert sich der zurückhaltende, schüchterne, fast schon menschenscheu anmutende Guylain und entdeckt zunehmend auch schöne Seiten am Leben.
Wer außergewöhniche Geschichten und schräge Bücher mag, der ist hier richtig. Jean-Paul Didierlaurent ist es gelungen, die Figuren in diesem Roman zu kleinen Helden ihres monotonen und grauen Lebens zu machen. Trotz oft einfach anmutender Sprache gibt es nahezu poetische Passagen, und durch die Melancholie des Alltags zieht sich auch stets ein breiter Streifen Humor, der mich immer wieder lächeln ließ. Ein Buch für Bücherliebhaber und ein modernes Märchen - ein Wohlfühlroman, der ein wenig Farbe ins Alltagsgrau zaubert.
© Parden