„An dem Morgen, als die letzte Lisbon-Tochter Selbstmord beging – Mary diesmal, mit Schlaftabletten wie Therese-, wussten die Sanitäter schon genau, wo die Schublade mit den Messer war, wo der Gasherd und wo im Keller der Balken, an dem man das Seil festbinden konnte. Wie immer viel zu langsam, unserer Meinung nach, stiegen sie aus dem Rettungswagen, und der Dicke murmelte tonlos: „Wir sind hier nicht im Fernsehen, Leute. Schneller geht’s nun einmal nicht bei uns.“ Vorbei an den bis ins Monströse gewachsenen Büschen trug er das schwere Atemgerät über den verwilderten Rasen, der vor elf Monaten, als die Geschichte begonnen hatte, zahm und akkurat gepflegt gewesen war. Cecilia, die Jüngste, erst dreizehn, war als Erste gegangen, indem sie sich wie eine Stoikerin im Bad die Pulsadern aufgeschlitzt hatte, und als die Sanitäter sie in ihrem rosafarbenen Wasser liegen sagen, mit Augen, die gelb waren wie die einer Besessenen, ein kleiner Körper, der den Geruch einer reifen Frau verströmte, waren sie über Cecilias tiefe Gelöstheit so erschrocken, dass sie erst einmal wie hypnotisiert stehen blieben.“
Kritik
Einer Zusammenfassung des Inhalts bedarf es nicht. Diese ersten Sätze verraten schon viel über Inhalt und den Roman selbst. Erzählt wird die Geschichte von fünf Schwestern, die alle innerhalb eines Jahres Selbstmord begehen. Mit dem Tod Mädchen verfällt auch das Haus Lisbon. Die Erzählperspektive ist ungewöhnlich. Die Geschichte wird konsequent aus der Sicht der Jungs aus der Nachbarschaft erzählt. So erfahren wir über die Mädchen nur das, was die Jungs vermuten, was sie erleben, was sie aus unterschiedlichen Quellen erfahren. Die Mädchen selbst bleiben für uns so rätselhaft, so distanziert wie sie es eben für die männlichen Heranwachsenden auch sind, die viel beobachten, viel spekulieren.
Die Art des Erzählens hat mir unglaublich gut gefallen. Wie in den ersten Sätzen hier werden immer wieder Bilder gemalt, eine Stimmung, eine Szene eingefangen. Der Roman ist dabei (das mag ich ja auch sehr gern) sehr dialogarm. Die Bilder sind eindrücklich, poetisch, aber auf eine gewisse Art unsentimental. Der Roman psychologisiert nicht, er zeigt. Es ist keine Gesellschaftskritik, wir bekommen keine Moral an die Hand. Wir können nur den Jungs über die Schulter schauen, was mir sehr gut gefallen hat. Die Mädchen erscheinen kühl und abwesend und irgendwie sphingenhaft, unnahbar. Was von ihnen bleibt – denn die Geschichte wird in Retrospektive von den inzwischen erwachsenen Männern erzählt – sind Objekte. Büstenhalter, Haare, Make-Up. Objekte und Erinnerungen an die Jugend.
„Er habe ihr ganzes Wesen in dem Kuss spüren können, sagte er, als sei ihre Seele durch ihre Lippen entflohen, wie in der Renaissance. Zuerst schmeckte er das Fett ihres Lippenstifts, dann das traurige Rosenkohlaroma ihrer letzten Mahlzeit und darunter den Staub verlorener Nachmittage und das Salz der Tränendrüsen. Der Pfirsichlikör verlor an Geschmack während er von den Säften ihrer inneren Organe kostete, die alle vom Kummer leicht sauer schmeckten. Manchmal wurden ihre Lippen sonderbar kalt, und wenn er dann linste, sah er, dass sie beim Küssen ihre verschreckten Augen weit aufgerissen hatte.“
Viel mehr möchte ich über den Roman gar nicht sagen, da ein Beschreiben den Roman irgendwie kaputtmacht so wie ein Witz nicht erklärt werden darf, um noch witzig zu bleiben.
Selbst lesen!